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Keine Fragen, schlechte Antworten

Das System der Psychotherapie soll reformiert und effektiver gemacht werden. Für alle Betroffenen sind das düstere Aussichten

  • Cécile Loetz und Jakob Müller
  • Lesedauer: 15 Min.
Obwohl bei der Psychotherapie durch die Reform alles besser werden soll, könnten paradoxerweise die Praxen gerade dadurch leer bleiben (Symbolbild).
Obwohl bei der Psychotherapie durch die Reform alles besser werden soll, könnten paradoxerweise die Praxen gerade dadurch leer bleiben (Symbolbild).

Um die aktuelle Reform der Psychotherapie besser einordnen zu können, ist es sinnvoll, sich den bisherigen Weg in den Beruf des Psychotherapeuten einmal anzuschauen: Wer Medizin oder Psychologie studiert hatte, konnte sich nach dem Studium an einem Ausbildungsinstitut für Psychotherapie anmelden. Im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie hatten auch Pädagog*innen Zugang.

Nehmen wir den häufigsten Fall: Eine Psychologin schließt ihr Studium ab und beginnt dann eine fünf- bis sechsjährige Ausbildung, zum Beispiel in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Diese Ausbildung besteht aus verschiedenen Phasen – Klinikpraktika, Supervision, eigene Behandlungen. Das bedeutet, sie behandelt echte Patient*innen, bespricht die Prozesse mit einem Supervisor und entwickelt so ihre therapeutischen Fähigkeiten. Nach Abschluss der Ausbildung erhält sie die Approbation und kann, sofern sie einen Kassensitz bekommt, gesetzlich Versicherte behandeln.

Reform mit Finanzlücke

Allerdings gab es hier ein Problem. Psycholog*innen hatten während ihrer Ausbildung trotz eines abgeschlossenen Studiums den Status von Praktikant*innen. Das bedeutete, dass sie nicht tariflich entlohnt werden mussten, ihre Arbeitsbedingungen waren oft extrem prekär. Wie die Ausbildung dann konkret ablief, hing stark vom jeweiligen Ausbildungsinstitut ab. Es gab sehr unterschiedliche Modelle. Manche Institute arbeiteten familiär und ehrenamtlich, andere waren wirtschaftlich orientierte Großbetriebe.

Wichtig zu wissen ist: Wenn eine Auszubildende in einer Therapie Patient*innen behandelt, wird diese Stunde von der Krankenkasse genauso wie eine Therapiestunde von einem bereits approbierten Psychotherapeuten bezahlt – aktuell mit etwa 120 Euro. Dieses Geld geht zunächst an das Institut, das dann je nach interner Regelung einen Teil an die Auszubildenden weitergibt. Manche Institute behalten 30 Prozent ein, andere – wie bei unserem Ausbildungsinstitut – geben bis zu 90 Prozent weiter. Mit diesen Einnahmen konnten wir zum Beispiel unsere eigene Selbsterfahrung finanzieren. Dieses System bietet also Spielräume: Es ermöglicht sowohl eine persönliche, entwicklungsorientierte Ausbildung als auch eine rein ökonomisch ausgerichtete. Manche Institute sind als GmbH organisiert, deren Gewinne im Handelsregister einsehbar sind. Diese Struktur bot die Möglichkeit zur ökonomischen Ausbeutung von Auszubildenden, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit zu einer freieren Gestaltung – sowohl für die Institute als auch für die Auszubildenden, die im eigenen Tempo arbeiten und ihre therapeutische Identität entwickeln konnten.

Im Jahr 2020 wurde eine Reform verabschiedet, die insbesondere den Ausbildungsweg für Psycholog*innen betrifft. Ziel war es, die Ausbildungsbedingungen zu verbessern, und das ging nur, indem man den Status der Abschlüsse verändert. Ohne auf alle Details einzugehen: Das Ergebnis ist ein neuer Studiengang Psychotherapie, der direkt mit der Approbation abschließt. Im Prinzip wurde damit eine Art Gleichstellung von Medizinstudium und Psychotherapiestudium geschaffen. Wer heute Medizin studiert, ist nach dem Abschluss approbiert und beginnt dann die Weiterbildung zum Facharzt, um sich auf ein Gebiet zu spezialisieren. Genauso ist es jetzt beim neuen Psychotherapiestudium – man ist nach dem Abschluss approbiert und geht dann in die Weiterbildung zum Fachpsychotherapeuten. Das bedeutet eine tiefgreifende Veränderung, denn approbierte Psychotherapeut*innen können nun nicht mehr als Praktikant*innen behandelt werden, sondern müssen tariflich festangestellt werden.

Das ist zunächst ein begrüßenswerter Fortschritt. Es bedeutet aber auch: Ein Institut mit bisher 50 freien auszubildenden Mitarbeitenden wird plötzlich zu einem mittelständischen Unternehmen mit 50 Angestellten. Und während vorher jeder Ausbildungskandidat quasi sein eigener Geschäftsführer war, braucht es nun eine zentrale Geschäftsführung, Lohnbuchhaltung und alles, was ein regulärer Wirtschaftsbetrieb mit sich bringt. Das lässt sich nicht mehr durch ehrenamtliches Engagement stemmen – und genau das wurde bei der Reform nicht mitgedacht: die Kosten.

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Es gibt Gutachten, die das genau berechnet haben, und sie zeigen: Das, was Weiterbildungskandidat*innen durch ihre Behandlungen einnehmen, reicht vielleicht gerade, um ihr eigenes Gehalt zu finanzieren – aber nicht den gesamten Betrieb, also Verwaltung, Organisation, Infrastruktur. Das würde nur funktionieren, wenn man das Ganze in einen ökonomisierten Großbetrieb verwandelt, der jeden einzelnen Aspekt auf Effizienz trimmt und maximalen Output aus allen Beteiligten herauspresst. Und auch das ist eher theoretisch. Was wir aktuell beobachten, ist ein ganz anderes Phänomen: Die Institute verwandeln sich nicht in Haifisch-Unternehmen – sie ziehen sich schlicht zurück. Ein Institut mit bisher 50 Ausbildungskandidat*innen entscheidet sich vielleicht, künftig nur noch fünf oder zehn aufzunehmen. Kleinere Institute entscheiden sich, die Ausbildung gar nicht mehr anzubieten, weil der Aufwand zu groß ist. Und das führt dazu, dass die Zahl der Ausbildungsplätze für Psychotherapeut*innen gerade drastisch sinkt.

Personalmangel und Rentabilität

Im Moment kommt kaum noch psychotherapeutischer Nachwuchs nach. Es gibt viele junge Menschen, die inzwischen den neuen Studiengang Psychotherapie abgeschlossen haben, aber sie kommen auf ihrem Berufsweg nicht weiter, weil es keine Weiterbildungsplätze mehr gibt. Das ist vergleichbar mit lauter Assistenzärzt*innen, die keinen Platz zur Facharztweiterbildung bekommen und dadurch beruflich blockiert sind. Das ist hochproblematisch, denn wenn sich daran nichts ändert, werden uns in ein paar Jahren die Therapeut*innen fehlen, die überhaupt Versorgung leisten können.

Wie auch immer das konkret aussieht, die Weiterbildungsbetriebe geraten unter enormen Kostendruck. Und was dann naheliegt, ist die möglichst billige Gestaltung der Ausbildungsangebote mit günstigen Leistungen bei möglichst wenig Aufwand. Das bedeutet auf der einen Seite: minimale Ausbildungsangebote, Lehre, Vertiefung nicht über dem gesetzlichen Notwendigen. Die andere Seite ist: Der Ertrag soll maximiert werden. Das heißt, die Weiterbildungsteilnehmer*innen sollen möglichst viele Behandlungen übernehmen – und zwar solche, die für das Institut möglichst rentabel sind. Hier wird es interessant, denn Kurzzeitbehandlungen werden seit einigen Jahren von den Krankenkassen besser vergütet als Langzeittherapien.

Therapeut*innen bekommen einen finanziellen Bonus von 15 Prozent für die ersten zehn Stunden einer Behandlung. Wenn ich also zwei Patient*innen je zehn Stunden behandle, verdiene ich mehr, als wenn ich dieselbe Person über zwanzig Stunden begleite. Für niedergelassene Einzelpraxen spielt das in der Praxis vielleicht noch keine große Rolle. Aber für größere wirtschaftlich strukturierte Einrichtungen kann das durchaus ein entscheidender Anreiz sein. Diese neuen Ausbildungsbetriebe (oder wie man sie nennen will) sollen laut Reform in Zukunft Teil der regionalen Versorgungsstruktur werden. Das heißt, es wird immer wahrscheinlicher, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen an solche Institute verwiesen werden und nicht mehr an einzelne Praxen. Die Tendenz geht weg von klassischen niedergelassenen Therapeut*innen und hin zu größeren Zentren mit vielen, oft jüngeren, Therapeut*innen – und mit einer starken ökonomischen Logik im Hintergrund. Zumindest wäre das ein mögliches Szenario.

Fokus auf Kurzzeittherapie

Kommen wir also zu einem zweiten zentralen Aspekt der aktuellen Veränderungen im psychotherapeutischen System: der Frage, welche Art von Therapie Patient*innen in Zukunft überhaupt noch bekommen können. Zurzeit ist die Regelung so: Wenn man das Gefühl hat, man braucht psychotherapeutische Unterstützung, kann man sich entweder an den Hausarzt oder an eine Ambulanz wenden – oder man sucht direkt eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten auf. Dann vereinbart man sogenannte Sprechstunden, in denen gemeinsam geklärt wird, ob eine Therapie notwendig ist und welche Form geeignet wäre. Anschließend kann man eine Kurzzeittherapie beantragen, für die es eine formale Genehmigung durch die Krankenkasse braucht. Oder man stellt, falls der Bedarf über 24 Sitzungsstunden hinausgeht, einen Antrag auf eine Langzeittherapie. Dazu muss ein ausführlicher Bericht verfasst werden, der von einem unabhängigen Gutachter geprüft wird. Je nach Therapieform können dann zwischen 48 und etwa 300 Stunden bewilligt werden.

Das Hauptproblem an diesem Verfahren ist, dass die Versorgungslage nicht ausreicht. Es gibt zu viele Patientinnen und zu wenige verfügbare Therapieplätze. Wobei man betonen muss: Es herrscht derzeit kein Mangel an Therapeut*innen, sondern ein Mangel an Kassenzulassungen. Das bedeutet, dass selbst wenn jemand die gesamte Ausbildung durchlaufen hat, er oder sie nicht einfach eine Praxis eröffnen kann, sondern einen sogenannten Kassensitz braucht, um mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen zu dürfen. Diese Sitze sind aber stark begrenzt. Es gibt also deutlich mehr ausgebildete Therapeut*innen als verfügbare Kassenzulassungen – und die Politik zeigt aktuell wenig Bereitschaft, diese Zahl zu erhöhen. Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der übrigens auch die aktuelle Reform auf den Weg gebracht hat, sagte einmal sinngemäß, je mehr Kassensitze man in einer Region bereitstelle, desto mehr psychisch Kranke gäbe es dort auch. Das Angebot würde also den Bedarf erzeugen, und deshalb solle man mit weiteren Zulassungen vorsichtig sein.

Eine weitere zentrale Veränderung, die mit den aktuellen Psychotherapie-Reformen einhergeht, betrifft das sogenannte Gutachterverfahren, das heißt die Genehmigung von längeren Therapien durch ein Gutachten. Das klingt erst einmal nach verwaltungstechnischem Detail, aber es hat gravierende Auswirkungen auf die zukünftige Gestaltung von Psychotherapie. Das Besondere am bisherigen Gutachterverfahren ist, dass es mit einer sogenannten Vorab-Wirtschaftlichkeitsprüfung verbunden ist. Das bedeutet, wenn der Gutachter die beantragten Stunden genehmigt, darf die Krankenkasse diese später nicht mehr infrage stellen oder Geld zurückfordern – unabhängig davon, wie die Therapie verläuft. Die Behandlung gilt damit im Vorhinein als wirtschaftlich genehmigt. Wenn also beispielsweise 300 Stunden bewilligt werden, können diese auch genutzt werden – und der therapeutische Prozess bleibt offen. Dieses Verfahren soll nun abgeschafft und durch ein sogenanntes Evaluationssystem ersetzt werden. Das heißt, Patient*innen sollen während der Therapie regelmäßig Fragebögen ausfüllen, in denen sie angeben, wie sich ihre Symptome entwickeln.

Effizienz und Konkurrenz

Für das weitere Verfahren werden derzeit verschiedene Modelle diskutiert. Eines sieht vor, die Genehmigung weiterer Therapiestunden an den Verlauf der Symptomveränderung zu koppeln. Wenn jemand zum Beispiel zehn Stunden Therapie absolviert hat, wird ein Fragebogen ausgefüllt – ergibt dieser, dass die Symptome noch bestehen, werden zehn weitere Stunden genehmigt. Zeigt der Fragebogen aber keine Verbesserung oder gar eine Verschlechterung, könnte dies bedeuten, dass die Therapie nicht verlängert wird – mit der Begründung, sie sei unwirksam. Mit anderen Worten: Die Fortsetzung der Therapie hängt dann vom Ergebnis dieser Fragebögen ab. Ein anderes Modell verzichtet auf diese Vorab-Steuerung, erlaubt zunächst die Therapie, wird jedoch im Nachhinein einer Effizienzprüfung unterzogen. Fällt diese negativ aus, könnten Krankenkassen gezahlte Beträge zurückfordern – vergleichbar mit den nachträglichen Prüfungen durch den Medizinischen Prüfdienst im Klinikbereich. Damit entfällt faktisch die Vorab-Wirtschaftlichkeitsprüfung, und es könnte dazu kommen, dass Therapeut*innen im Nachhinein keine finanzielle Vergütung für längere Therapien erhalten oder diese gekürzt wird.

Ein solches System hätte vermutlich zwei unmittelbare Folgen. Erstens: Viele Therapeut*innen würden keine Langzeittherapien mehr anbieten – aus Angst, am Ende auf einem Teil der Kosten sitzenzubleiben, wenn die Therapie nicht als »effizient« bewertet wird. Sie würden sich also auf Kurzzeitbehandlungen konzentrieren, bei denen das Risiko eines Rückforderungsanspruchs geringer ist. Und zweitens: Es würde dazu führen, dass schwerere Fälle gemieden werden, weil sie statistisch weniger gut auf Therapie ansprechen. Wer zum Beispiel eine depressive Episode nach einem Trauerfall hat, kann oft relativ schnell stabilisiert werden. Wer aber an einer chronischen Depression leidet oder mehrere psychische Erkrankungen gleichzeitig hat, braucht in der Regel mehr Zeit und zeigt nicht immer schnelle Fortschritte. Für Therapeut*innen entsteht damit ein Anreiz, eher »leichte« Fälle zu behandeln – und komplexere, schwer behandelbare Patienten nicht mehr anzunehmen.

Man könnte meinen, das angepeilte Evaluationssystem würde mit Fachleuten aus der Psychotherapieforschung entwickelt – also mit Menschen, die die Dynamik solcher Prozesse kennen. Tatsächlich aber stammen vorgeschlagene Evaluationen von einem externen Institut, das nicht transparent macht, nach welchen Kriterien es die Fragebögen erstellt. Zudem wird die Idee diskutiert, solche Evaluationsfragebögen zur Grundlage eines Rankingsystems für Psychotherapeut*innen zu machen, das Konkurrenz und Sanktionen für vermeintlich schlechter abschneidende Therapeut*innen ermöglichen soll.

Was durch solche Rankings entsteht, ist nicht bessere Therapie, sondern bekanntermaßen ja eine Optimierung des Evaluationssystems. Therapeut*innen werden ihre Arbeit nicht an ihren Patientinnen ausrichten, sondern an dem, was im Fragebogen gut aussieht. Und das führt eben nicht dazu, dass Menschen besser arbeiten, sondern dazu, dass sie die richtigen Fälle auswählen, günstige Bewertungen erhalten und das System strategisch bedienen. Es gibt tausend Wege, ein solches System zu »hacken« – und am Ende bewertet man nicht die tatsächliche Qualität einer Therapie, sondern die Fähigkeit, sich gut in Zahlen zu verkaufen.

Hinter dem Symptom

Wir möchten nun noch einmal auf die psychologische und gesellschaftliche Dimension solcher Reformprozesse schauen. Was für ein Menschenbild steckt eigentlich hinter der Form von Psychotherapie, die hierzulande offenbar politisch gewollt ist? Hier lässt sich zunächst festhalten: Im Kern bleibt in solchen Systemen wenig Raum für die Frage nach dem »Warum«. Was bedeutet mein Leiden, wofür steht es, was will es mir vielleicht sagen? Es geht vor allem um Symptomkontrolle, und die ist natürlich nicht per se schlecht. Aber sie greift zu kurz, wenn man psychisches Leiden auf reine Funktionsstörung reduziert.

Nehmen wir eine Person mit Panikattacken. Für manche ist es hilfreich, Techniken zu lernen, mit denen die Symptome kontrollierbar werden – und das kann im besten Fall schon ausreichen. Aber es könnte auch sein, dass diese Panik einen tieferen Grund hat. Und der lässt sich nur erfassen, wenn ich Raum bekomme, mich zu fragen: Warum passiert das gerade hier, gerade jetzt, gerade in dieser Lebensphase? Vielleicht zeigt sich in der Therapie, dass die Panik immer dann kommt, wenn die Person im Zug zur Arbeit sitzt. Daraus ergibt sich eine Spur: Was hat die Arbeit mit mir zu tun? Macht sie mich unglücklich? Muss ich dort etwas erfüllen – Erwartungen, Status, Rollen? Und plötzlich geht es nicht mehr nur um die Panik, sondern um ein tieferes Selbstverständnis, das sich vielleicht verändert. In einem solchen Prozess entsteht Entwicklung. Die Person entdeckt neue Wege, neue Deutungen, neue Möglichkeiten, sich zu verstehen – etwas, das in einem System, das nur fragt: »Ist das Symptom schon weg?« gar nicht sichtbar würde.

Jedes Symptom wirft im Grunde eine Frage auf. Wenn wir aber in einer Gesellschaft leben, die diese Fragen reflexhaft abschließt – die Tür, die sich öffnen könnte, gleich wieder zuschlägt, und sagt: »Hier gibt es nichts weiter zu sehen« –, dann entgeht uns nicht nur die Tiefe, sondern auch das Potenzial, etwas wirklich Neues zu entdecken. Dabei läge ja eigentlich genau hier das Potenzial der Psychotherapie: zu helfen, das Verhältnis zu sich selbst zu verändern, anstatt fertige Antworten zu liefern. Es geht darum, die Angst vor Veränderung zu reduzieren – so weit, dass man überhaupt anfangen kann, über Alternativen nachzudenken. Das ist in unseren Augen der eigentliche therapeutische Prozess.

Vielleicht wenden wir uns jetzt noch einmal dem ganz pragmatischen Gedanken zu: Selbst wenn man das alles politisch so umsetzt – wird das überhaupt funktionieren? Kann man auf diese Weise Psychotherapie betreiben? Und was wären die Konsequenzen? Ein Blick nach England könnte hier aufschlussreich sein, denn dort wurden viele der Modelle, die wir hier diskutieren, bereits vor Jahrzehnten umgesetzt. In Großbritannien ist Psychotherapie Teil des staatlichen Gesundheitssystems. Wenn jemand psychische Beschwerden hat, geht er oder sie zunächst zum Hausarzt. Von dort erfolgt gegebenenfalls eine Überweisung an das sogenannte IAPT-Programm – Improving Access to Psychological Therapies. In diesem Programm wird die Person zunächst diagnostiziert und anhand ihrer Symptomatik einem standardisierten Behandlungsplan zugeordnet.

Wer beispielsweise eine leichte depressive Episode hat, bekommt eine kurze, fast immer kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Intervention zugewiesen – ein festgelegtes Programm, das maximal sechs bis zwölf Stunden dauert. In dieser Zeit wird nicht frei gearbeitet, sondern nach einer festen Struktur. Während der gesamten Behandlung erfolgt eine kontinuierliche Evaluation, bei der die Patient*innen regelmäßig ihre Symptome und die Leistung ihrer Therapeut*innen bewerten müssen. Längere Therapien sind im System zwar theoretisch möglich, aber praktisch kaum vorgesehen oder realisiert. Die Reformen wurden ursprünglich mit der Idee verknüpft, dass psychische Probleme bei arbeitslosen oder arbeitsunfähigen Menschen der Hauptgrund für deren Zustand seien. Also müsse man große Bevölkerungsgruppen psychotherapeutisch behandeln, um ihre Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen – quasi eine Art Hartz IV mit psychotherapeutischem Zusatz.

Kranke Therapeuten

Trotz dieses »evidenzbasierten« Systems ist die Zahl psychischer Erkrankungen in Großbritannien – ebenso wie in vielen anderen Staaten – in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Und soweit wir die Studienlage überblicken können, gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Einführung dieses Systems dazu geführt hätte, psychisches Leiden besser in den Griff zu bekommen. Was man allerdings beobachten kann, ist ein anderer Effekt: Die Depressionsrate unter Psychotherapeut*innen selbst ist gestiegen. Untersuchungen zeigen, dass über 50 Prozent der Therapeut*innen, die im IAPT-System arbeiten, unter depressiven Symptomen – vor allem Burnout – leiden und viele von ihnen darüber nachdenken, den Beruf zu verlassen.

Die Gründe für diese Entwicklung sind recht eindeutig. Therapeut*innen erleben ihre Arbeit als belastend, weil sie eine Art Fließbandtherapie unter starkem Druck leisten müssen – ständig unter der Kontrolle von Leistungskennzahlen, ständig im Vergleich mit Kolleg*innen. Da greift schnell die Logik: »Patient XY hat sich nach sechs Sitzungen schon verbessert – warum braucht Ihr Patient zehn?« Dadurch entsteht eine Entfremdung – sowohl von der eigenen therapeutischen Haltung als auch von der therapeutischen Beziehung zum Patienten, die ja eigentlich im Zentrum steht. Diese Beziehungsebene bleibt zwar immer da, aber sie bekommt keinen Raum, sie darf nicht wirken. Stattdessen wird ein vorgegebenes Programm abgespult. Und das empfinden viele als zutiefst unbefriedigend.

Vielleicht liegt genau hier der eigentliche Prüfstein dieser Reformen: Nicht, ob sie treffgenaue Messverfahren erzeugen, Abläufe beschleunigen oder Kosten senken, sondern ob sie eine Form von Psychotherapie hervorbringen, in der Menschen überhaupt noch zu sich kommen können. Ein System, das seine Helfer erschöpft, seine Patient*innen sortiert und seine Fragen zum Schweigen bringt, mag vieles leisten – nur nicht das, wozu dieses Feld einmal angetreten ist und wofür die meisten Therapeut*innen diesen Berufsweg wählen: einen Ort offenzuhalten für eine Stimme, die in der Gesellschaft und im eigenen Leben oft kaum Raum findet.

Cécile Loetz und Jakob Müller sind Psychoanalytiker und hosten zusammen »Rätsel des Unbewussten – Podcast zu Psychoanalyse und Psychotherapie«. Dieser Artikel ist eine gekürzte Version der Folge »Warum die Zukunft der Psychotherapie gefährdet ist«, zu hören unter: www.psy-cast.org

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