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Bahnrad-WM in Chile: Die Kluft zwischen den Kontinenten
Europas Dominanz auf der Bahn zeigt sich auch bei den Weltmeisterschaften in Santiago den Chile
Eine der schönsten Szenen dieser Bahnrad-Weltmeisterschaften in Chile ereignete sich nach dem Keirin-Finale der Männer. Harry Lavreysen hatte mal wieder gewonnen, sein vierter Titel in dieser Disziplin. Beim Jubel über sein 19. Regenbogentrikot insgesamt streckte er die Hand dem zweitplatzierten Australier Leigh Hoffman entgegen. Der fuhr bei seinem allerersten WM-Einzelstart gleich in die Medaillenränge und trennte damit auch das niederländische Traumpaar aus Lavreysen und dessen drittplatziertem Landsmann Jeffrey Hoogland. Beide kommen bislang auf 30 Titel und insgesamt 46 WM-Medaillen.
Eindeutige Nationenwertung
Der Einlauf im Keirin ist symptomatisch für die Titelkämpfe in Santiago de Chile: Athletinnen und Athleten aus Europa dominieren die Wettbewerbe, allen voran die aus den Niederlanden. In der Nationenwertung standen vor den abschließenden Rennen am Sonntagabend mit den achtplatzierten Australiern und den zwei Ränge dahinter liegenden Japanern lediglich zwei nichteuropäische Verbände und den besten Zehn. Südamerika, als gastgebender Kontinent betrachtet, ging komplett leer aus, obwohl Kolumbien beispielsweise mit dem früheren Keirin-Weltmeister Kevin Quintero angereist war und mit Nicholas Paul aus Trinidad und Tobago ein ehemaliger Vizeweltmeister im Aufgebot stand.
Mit der Infrastruktur kann diese Lücke nicht so recht begründet werden. Kolumbien etwa verfügt über acht Velodrome, drei davon mit der für WM und Olympia vorgschriebenen 250-Meter-Bahn, Argentinien sogar über mehr als ein Dutzend (sieben davon über 250 Meter), WM-Gastgeber Chile hat vier Velodrome. Auch andere Kontinente haben aufgeholt. In Indien etwa liegen mehr als ein Dutzend aktuell genutzte Bahnen, die meisten allerdings über 333 Meter. Japan ist wegen der Keirin-Kultur ohnehin seit Langem eine feste Größe im Bahnradsport, China macht seit den Sommerspielen von Peking Fortschritte, sportlich gekrönt unter anderem mit dem Olympiasieg im Teamsprint der Frauen 2021 in Tokio. Auch Afrika zieht nach, zumindest infrastrukturell. 2020 entstand in Ägypten das Cairo Velodrome, in Nigeria wird im lange nur als Lager für Gasflaschen genutzte Abuja Velodrome seit 2019 gefahren.
Wenige Wettkämpfe
Der Abstand zu Europa wächst dennoch. Grund dafür ist unter anderem die geringe Anzahl von Wettkämpfen außerhalb Europas. »Wir verfügen über eine der besten Bahnen in ganz Lateinamerika. Für das gesamte Jahr 2025 sind aber vom Verband nur zwei Wettkämpfe hier geplant«, kritisierte beispielsweise im Sommer Radsportmanager Rolando Manzanelli aus dem argentinischen San Juan. Hinzu kommen bauliche Mängel. Für die jüngst sanierte Betonpiste im chilenischen Maule stellte der dort tätige Trainer Claudio Muñoz fest: »Der Belag erzeugt sehr viele Vibrationen, die auf die Beine gehen. Er ist auch sehr glänzend, was zu Blendeffekten führt.«
Sportlich kam bei den Weltmeisterschaften im Velodrom von Santiago de Chile auch Pech hinzu. Kolumbiens Ex-Weltmeister Quintero stürzte im Keirinfinale. Das chilenische Team ging in der Mannschaftsverfolgung schon in der Qualifikation zu Boden, ebenso das Madison-Duo der chilenischen Frauen. In diesem sehr chaotischen Wettbewerb erwischte es allerdings mehrere andere Fahrerinnen. Die niederländische Favoritin Lorena Wiebes verletzte sich dabei, sodass sie ihren Titeln im Scratch und Omnium keinen weiteren hinzufügen konnte.
Tradition und Medaillen
Eine südamerkanische Hoffnung ist die 19-jährige Kolumbianerin Stefany Cuadrado, die bei ihrem WM-Debüt Fünfte in der 1000-Meter-Verfolgung wurde. Sie ist gelernte Tischtennisspielerin und kam erst durch die Einschränkungen während der Corona-Pandemie zum Radsport. Sie wurde im letzten Jahr dreifache Juniorenweltmeisterin und gilt als eine, die die kolumbianische Bahntradition in Zukunft fortsetzen kann. 1971 hatte Martin »Cochise« Rodriguez das erste Regenbogentrikot für sein Land auf der Bahn geholt.
Das deutsche Team kam bis zum vorletzten Wettkampftag auf zwei Medaillen. Scratch-Weltmeister Moritz Augenstein lag im Omnium bis zum Schluss auf Medaillenkurs, rutschte dann aber noch auf Platz fünf ab. Jeweils vierte Plätze erreichten Lea Friedrich und Henric Hackmann im Zeitfahren über 1000 Meter. Für die mehrfache Weltmeisterin Friedrich war dies eher ernüchternd, für WM-Neuling Hackmann, in diesem Jahr U23-Europameister in dieser Disziplin, hingegen ein toller Erfolg. Weil zur absoluten Weltspitze aber weiterhin eine Lücke klafft, müssen sich neben den Südamerikanern auch die Deutschen für die Zukunft einiges einfallen lassen. Viele Bahnen – 22 in Deutschland – sind keine Erfolgsgarantie.
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