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Moritz Augenstein: Aus Unfall-Trümmern zum Titel bei der Bahn-WM
Nach einem Horrorunfall im Januar holt der 28-Jährige Gold im Scratch
Besser hätte das Unternehmen »Wiedergutmachung« für Moritz Augenstein kaum laufen können. Der 28-jährige Pforzheimer holte bei den Weltmeisterschaften in der Nacht zu Freitag in Santiago de Chile Gold im Scratch. Das ist ein zehn Kilometer langes Rennen mit Massenstart. 40 Runden lang kreiselten die Teilnehmer auf der 250 Meter langen Bahn des Penalolen-Velodroms, das vor elf Jahren für die Südamerika-Spiele errichtet wurde und nun zum ersten Mal Austragungsort einer WM ist.
Sieg beim Debüt
Augenstein attackierte im richtigen Moment: Drei Runden vor Schluss setzte er sich mit einem langen Sprint an die Spitze und gab die Führung bis zum Zielstrich nicht mehr her. Es war am zweiten Tag der Titelkämpfe im Bahnradsport das erste Gold für German Cyling. Für Augenstein kam der Titel sogar in seinem allerersten WM-Rennen überhaupt, im vergangenen Jahr verhinderte ein gebrochenes Schlüsselbein den Start.
Im Januar erwischte es ihn noch schlimmer: Augenstein fuhr auf Mallorca in jener Trainingsgruppe, in die ein 89-jähriger Autofahrer von hinten hineinraste. Dieser gab später an, abgelenkt gewesen zu sein. Sechs Athleten, neben Augenstein auch die junge Besetzung des WM-Bahnvierers, kamen zu Schaden – teilweise mit mehrfachen Knochenbrüchen. Die Fernsehbilder zeigten zerstörte Räder und verstörte Sportler. »Es hat einem Schlachtfeld geähnelt, wie wir da auf einmal zu sechst im Seitengraben lagen«, erinnerte sich Augenstein Monate später. Erleichtert gestand er aber auch: »Wir können, glaube ich, auch von Glück reden, dass wir noch laufen und alles bewegen können.«
Silber zum Auftakt
Die Europameisterschaften auf der Bahn im Februar ließen Augenstein und die verletzten Kollegen selbstverständlich aus. Für die WM im Spätherbst haben sie sich aber in Form gebracht. Benjamin Boos schaffte nach einer Lendenwirbeloperation noch den Sprung in den Bahnvierer, Max-David Briese musste »nur« eine Gehirnerschütterung sowie Schnitt- und Schürfwunden auskurieren. Der Vierer verpasste in Santiago zwar die Finals, erreichte als Gesamtfünfter aber immerhin die zweitschnellste jemals von einem deutschen Team gefahrene Zeit. Briese forderte nach dem Unfall übrigens alle anderen Verkehrsteilnehmer auf: »Ich würde mir wünschen, dass Radfahrer nicht nur als Hindernisse gesehen werden, sondern als Menschen mit Träumen und Zielen.«
Der Vierer der Frauen hatte den zweiten WM-Tag bereits mit Silber eröffnet: Franziska Brauße, Lisa Klein, Laura Süßemilch und Messane Bräutigam unterlagen im Finale den Italienerinnen. Medaillenlos war der erste Tag verlaufen, sogar bei den erfolgsverwöhnten Sprinterinnen. Ohne Emma Hinze, die in ein paar Wochen ihr erstes Kind erwartet, reichte es im Teamsprint nur zu Platz fünf.
Große Bühne
Umso stärker lindert Augensteins Erfolg im Scratch die Ergebnisschmerzen. Der frisch gebackene Weltmeister hat noch ein ziemlich dichtes Wettkampfprogramm: Gemeinsam mit Routinier und Mehrfachweltmeister Roger Kluge tritt er bei der WM im Madison an und bestreitet außerdem Omnium und Ausscheidungsfahren. Er glänzt durch Vielseitigkeit: Für die Maloja Pushbikers bestreitet er Straßenrennen, Europameister wurde er in diesem Jahr im Derny-Rennen.
Diese Weltmeisterschaften in Chile scheinen zur großen Bühne für Sportler zu werden, die sich durchzubeißen wissen. Eine beeindruckende Genesungsgeschichte schrieb auch die Neuseeländerin Prudence Fowler. Die 22-Jährige wurde bei ihrem WM-Debüt Dritte im Scratch. Vor zehn Jahren wurde bei ihr Knochenkrebs diagnostiert. Der Tumor wurde entfernt, seitdem sind noch eine Metallplatte und ein paar Schrauben in ihrem Körper. »Laufen fiel mir schwer danach, aber Radfahren ging so.« Und so fand sie zurück in den Sport, dominierte im Nachwuchsbereich mit mehr als zwei Dutzend Meistertiteln – und trat nun erstmals international ganz groß auf.
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