- Kultur
- »Linke Melancholie« von Mesut Bayraktar
Die Zukunft als Verbündete
Mit seinem Lyrikdebüt »Linke Melancholie« entwirft Mesut Bayraktar eine Poetik des Widerstands und der Erinnerung
Melancholie ist in der Linken verdächtig. Zu leicht scheint sie zur Pose der Enttäuschten zu werden, zum sentimentalen Rückzug aus politischen Kämpfen.
Den Begriff der »linken Melancholie« prägte Walter Benjamin 1931 als Vorwurf gegen eine resignative Linke, die sich an ihre Niederlagen klammert, statt daraus zu lernen. Mesut Bayraktar hingegen verwendet den Ausdruck im Sinne des marxistischen Historikers Enzo Traverso, der von einer produktiven Melancholie spricht – als Gedächtnis vergangener Kämpfe, das zur Grundlage der künftigen werden kann.
Bayraktar greift diese Idee auf und führt sie poetisch fort. Auch seine Melancholie ist kein Rückzug, sondern Widerstand. »Melancholie ist Quelle utopischer Kraftgewinnung«, schreibt er im Nachwort, »sie vergisst kein Unrecht, ordnet jedes sorgsam ein, ein Archiv der Empörung.« Sie erinnert den Geschlagenen an den, der ihm Wunden zugefügt hat. Die Trauer wandelt sich in Wut: »Gibt es einen Revolutionär, der nicht melancholisch war?«
Der Autor, 1990 in Wuppertal als Sohn türkischer Einwanderer geboren, spricht aus der Perspektive derer, die in den großen Erzählungen fehlen: Arbeiter, Migranten, Menschen zwischen den Sprachen, zwischen den Zeiten. »Melancholie ist eines der ersten Gefühle, das ich kennengelernt habe«, berichtet er.
Im Gedicht »Schlechte Zeiten« rät die Mutter: »Geh lernen/ Sonst musst du deinen Rücken krümmen/ Wie wir«. Der Sohn folgt ihrem Rat und studiert. »Die Universitäten hassen euch/ Hassen unsere Klasse«, schleudert er ihr bei der Rückkehr entgegen. Doch diese Erkenntnis führt nicht zu Resignation, sondern zu Widerstand: »Geh kämpfen/ Das ist Lernen«.
In Bayraktars Werk spiegelt sich die Erfahrung einer Generation, die mit dem Scheitern groß geworden ist – dem Zusammenbruch des Realsozialismus, der Demontage linker Bewegungen, der Barbarei des kapitalistischen Normalbetriebs: »Seit ich geboren bin/ Berichten die Nachrichten/ Vom Krieg«.
Doch die Texte sind kein Abgesang auf die Linke, sondern ein Aufstand gegen das Vergessen. In einer Zeit, in der politische Lyrik zur Pose geworden ist, schreibt er Poesie, die Partei ergreift – für die Erniedrigten, für die, die nicht gehört werden. Den Geschlagenen, deren Träume in Blut und Beton erstickt wurden, wohnt noch Schönheit inne – so ruht in einer Bahnhofskneipe »auf den Gesichtern/ die Anmut von Betrogenen«. Solche Verse geben den Besiegten ihre Würde zurück, ohne das Scheitern zu leugnen.
Die Gedichte verbinden marxistische Geschichts- und Gesellschaftsanalyse mit einer lyrischen Form, die sich der sentimentalen Geste verweigert. In knappen, präzisen Bildern stellt Bayraktar die Gegenwart bloß – eine Welt, in welcher der Kapitalismus längst die innersten Räume der Menschen kolonisiert hat.
Formal sind die Gedichte karg und präzise, Anklänge an Brecht sind spürbar. Rhythmus und Klang entstehen aus dem Ernst des Gesagten, nicht aus Kunstfertigkeit. Überall leuchtet ein Klassenbewusstsein auf, das in der deutschen Gegenwartslyrik selten geworden ist. Damit wird der Band zu einem poetischen Gegenentwurf zur herrschenden Kultur, gegen den bürgerlichen Frieden mit der Geschichte.
»Linke Melancholie« ist ein seltenes Buch – poetisch wie politisch. Es vertraut darauf, dass aus der Trauer über das Vergangene die Energie für das Kommende entsteht. Es weigert sich entschieden, die Zukunft verloren zu geben. Seine Melancholie ist kein Ende, sondern ein Anfang: »Wenn wir zweifeln/ Wenn wir weinen/ Dann – weil wir an der Zukunft leiden/ Die noch nicht eingetreten ist.«
Mesut Bayraktar: Linke Melancholie. Gedichte. Autumnus-Verlag, 80 S., geb., 18,90 €.
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