Brasilien: Ungezielter Krieg gegen die Kartelle

Bei Einsätzen von Brasiliens Polizei kommt es zu vielen Toten in der Zivilbevölkerung

  • Andreas Behn
  • Lesedauer: 5 Min.
Demonstranten zünden auf der Avenida Paulista in São Paulo Kerzen an. Protest nach einem tödlichen Polizeieinsatz am 28. Oktober in zwei Favela-Komplexen in Rio de Janeiro.
Demonstranten zünden auf der Avenida Paulista in São Paulo Kerzen an. Protest nach einem tödlichen Polizeieinsatz am 28. Oktober in zwei Favela-Komplexen in Rio de Janeiro.

Für den rechtsextremen Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Claudio Castro, hat sich das Polizeimassaker ausgezahlt. 57 Prozent der Bevölkerung von Rio de Janeiro bewerten den Polizeieinsatz mit über 120 Toten am 28. Oktober als Erfolg. Die spontane Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha am 1. November zeigt, dass Claudio Castro mit seinem makabren politischen Kalkül richtig lag.

»Es gab nur vier Opfer«, sagte er mit Bezug auf die vier Polizisten, die bei dem Polizeieinsatz in dem Favela-Komplex Morro do Alemão ums Leben kamen. Die Erschießung von Bewohnern des Armenviertels ist demnach richtig und rechtens, da es sich um »Verdächtige« oder um »Kriminelle« handele. Menschenrechtsgruppen hingegen sprechen von einem Polizeimassaker, von gezielten Hinrichtungen und fordern die Festnahme von Castro, einem engen Verbündeten von Ex-Präsident Jair Bolsonaro, der vor Kurzem wegen Putschversuchs zu einer hohen Haftstrafe verurteilt worden ist.

Polizeigewalt fordert im Schnitt täglich 17 Tote

Polizeigewalt war und ist in Brasilien schon immer präsent. Im Schnitt töten Polizisten landesweit 17 Menschen pro Tag. Allein in der Stadt Rio de Janeiro sind es fast jedes Jahr über 1000 Menschen. Niemand wird für die Taten zur Rechenschaft gezogen – statt einer juristischen Aufarbeitung werden die meisten Tötungen mit der Begründung einer Notwehrsituation zu den Akten gelegt. Auffällig ist, dass bei all diesen Einsätzen, die zumeist in Armenvierteln stattfinden, nur selten Verdächtige festgenommen werden.

Die Opfer sind immer die gleichen: junge Männer, schwarz, arm. Die Schwarzenbewegung in Brasilien spricht angesichts der Zahlen, der Straflosigkeit und der gezielten Auswahl junger Menschen schon lange von einem Genozid an der Schwarzen Bevölkerung.

Hintergrund ist der strukturelle Rassismus, der in Brasilien tief verankert ist und alle Bereiche des Alltagslebens durchdringt. Trotz einer durchaus fortschrittlichen Gesetzgebung in Bezug auf Diskriminierungen sind rassistische Anfeindungen und Übergriffe allgegenwärtig. Die Medien spiegeln diese Lebensrealität wider: Über Morde an Weißen aus der Mittelschicht wird detailliert und empathisch berichtet, während Gewalt gegen Arme und Schwarze, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, eher als Statistik dargestellt wird.

Struktureller Rassismus prägt Brasilien

Das entsetzliche Massaker wie auch die verstörenden Bilder der Bewohner*innen, die am Tag nach dem Einsatz noch über 60 tote Angehörige im nahe gelegenen Waldstück fanden und auf einem Platz aufreihten, sind seitdem das bestimmende Thema in Brasilien. Castro und zahlreiche rechte Gouverneure anderer Staaten, die zu seiner Unterstützung demonstrativ nach Rio reisten, brachten damit das Thema öffentliche Sicherheit auf die politische Tagesordnung. Und setzten zugleich die Regierung von Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva und seine regierende Arbeiterpartei PT erfolgreich unter Druck.

Kurz darauf kursierten in Rio wie in der Hauptstadt Brasília mehrere Gesetzesprojekte und andere Initiativen – nicht zur Eindämmung tödlicher Polizeiexzesse, sondern zur Verschärfung der staatlichen Handhabe gegen das organisierte Verbrechen. Lula, der laut Datafolha seit Dienstag in den sozialen Medien an Beliebtheit einbüßte, musste sich rechtfertigen und versucht jetzt, mit neuen Sicherheitsinitiativen wieder aus der Defensive zu kommen.

Linke Regierungen brauchen wirksame Konzepte

Es ist offensichtlich, dass auch die Regierung Lula keine wirksamen Konzepte hat, um dem Treiben von Drogenbanden und organisierter Kriminalität Einhalt zu gebieten. Statt alternativer Ansätze setzt beispielsweise auch der PT-regierte Bundesstaat Bahia auf Gewalteinsätze in den Armenvierteln mit ähnlich vielen Todesopfern wie jedes Jahr in Rio.

Linke Regierungen müssen sich des Themas annehmen, nicht nur weil die Rechte wie die Medien mit Angstmache und den berechtigten Sorgen der Menschen um ihre Sicherheit immer wieder politische Geländegewinne erzielen. Die Dominanz der Drogenbanden in den vom Staat verlassenen Territorien gleicht einer maskulinen Schreckensherrschaft, die Unliebsame in Selbstjustiz hinrichtet, sogenannte Verräter*innen foltert und den Alltag der Bewohner*innen willkürlich kontrolliert.

Fachleute weisen seit Jahrzehnten vergeblich darauf hin, dass dem Problem nur in Kooperation statt in Konfrontation mit den Menschen in den Favelas beizukommen ist. Notwendig seien eine effektive Sozialpolitik und eine positive, konstruktive Rolle der öffentlichen Hand, die sich an den wirklichen Bedürfnissen der Bewohner*innen orientiert. Doch mit solch langfristigen Ansätzen und den dafür notwendigen Investitionen in angeblich kriminellen Stadtviertel lassen sich keine Wahlen gewinnen.

Milizen und Drogenbanden außer Kontrolle

Für die Rechte wie auch für das immer noch große Spektrum der rechtsextremen Bolsonaro-Anhänger*innen hingegen ist diese Form der »Sicherheitspolitik« ein wichtiges Instrument zur Umsetzung ihrer Ziele. Schon seit vielen Jahren hat eine unheilvolle Allianz aus korrupten Politiker*innen, der Militärpolizei und anderen bewaffneten Akteur*innen in Rio de Janeiro zur Entstehung von Milizen geführt, die ähnlich wie die Drogenbanden ganze Stadtteile kontrollieren und mit Mafiamethoden die Bevölkerung erpressen und ausbeuten. Diese Milizen, die auch für die Ermordung der Schwarzen Abgeordneten Marielle Franco im Jahr 2018 verantwortlich sind, befinden sich mit den Drogenbanden in einem beinah militärischen Konflikt um Einflussgebiete.

Dass jetzt ein offizieller Polizeieinsatz eine der beiden Konfliktparteien so spektakulär angegriffen hat und personell schädigen konnte, ist einer der Gründe, die dieses Massaker in Rio de Janeiro erklären.

Die tragische Bilanz: Mitnichten handelt es sich um einen missglückten Polizeieinsatz. Die schrecklich hohe Zahl an Todesopfern war seitens der rechtsextremen Regierung Castro geplant und ist Teil des Erfolges der Aktion. Das Massaker hat die rechten paramilitärischen Milizen gestärkt. Es wird von vielen als endlich harte Hand gegen Verbrecher*innen gewertet, obwohl dieses Vorgehen schon seit Jahrzehnten keinerlei nachweisbaren Effekt bei der Bekämpfung von Kriminalität hat. Es hat die verhasste PT und deren Regierung Lula beim Thema öffentliche Sicherheit unter Druck gesetzt, was auch einen Pluspunkt für die Rechtsextremen bei der Kampagne zur nächsten Präsidentschaftswahl bedeutet.

Andreas Behn leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -