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Greift Russland die Nato an?

Politische, ökonomische und militärische Über­legungen zu einem viel debat­tierten Szenario

  • Herbert Wulf
  • Lesedauer: 8 Min.
Eine russische RS-24-Jars-Interkontinentalrakete mit großer Reichweite wird im Rahmen einer Übung aus einem Hangar bewegt.
Eine russische RS-24-Jars-Interkontinentalrakete mit großer Reichweite wird im Rahmen einer Übung aus einem Hangar bewegt.

In der neuen geopolitisch geprägten Situation schalteten die meisten Regierungen in Europa in den Krisenmodus. Manche warnen alarmistisch vor einem Angriff Russlands auf die Nato und versteigen sich, meist ohne empirische Belege, sogar zu einer Jahreszahl. Verteidigungsminister Boris Pistorius sprach in einem Interview davon, Russland sei in »fünf bis acht Jahren« fähig, die Nato anzugreifen. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel, mit steilen Thesen präsent in vielen Medien, meinte: Vielleicht erleben wir jetzt »den letzten Friedenssommer«. Die Möglichkeit eines russischen Angriffs kann niemand mit Sicherheit ausschließen. Russland als friedfertig zu betrachten, wäre naiv. Aber ist Russland willens und fähig, die Nato anzugreifen, mit Aussicht auf einen militärischen Sieg? Um sich einer Antwort zu nähern, werden das militärische Kräfteverhältnis zwischen dem europäischen Teil der Nato und Russland verglichen und die Performance der russischen Streitkräfte während des Ukraine-Krieges bilanziert.

Militärisches Kräfteverhältnis

Nachdem die USA als verlässlicher Bündnispartner ausgefallen sind, wird im Folgenden lediglich der europäische Teil der Nato mit Russlands Militär verglichen. Es handelt sich um einen statischen Vergleich, der sich aufgrund der dynamischen Aufrüstungsprozesse sowohl aufseiten der Nato wie auch Russlands natürlich verändern kann.

Militärausgaben: Die europäischen Nato-Staaten gaben im Jahr 2024 dreimal so viel Geld für ihre Streitkräfte aus wie Russland (460 Milliarden zu 150 Milliarden US-Dollar). Selbst unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft ist Russland keineswegs überlegen. Nach neuesten Zahlenangaben des International Institute for Strategic Studies bewegen sich die russischen Militärausgaben jetzt (kaufkraftbereinigt) in der Größenordnung wie die Ausgaben der europäischen Länder. Wörtlich heißt es: »Russlands gesamte Militärausgaben beliefen sich 2024 geschätzt auf 13,1 Billionen Rubel (145,9 Milliarden US-Dollar) … Kaufkraftbereinigt würden die gesamten Militärausgaben 2024 auf 461,6 Milliarden internationale Dollar kommen, was fast den gesamten Verteidigungsausgaben Europas entspricht.« Angesichts der Pläne der Nato, die Militärausgaben anteilig am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu erhöhen, kann für die nächsten Jahre mit einem weiter rasanten Wachstum gerechnet werden.

Der Krieg in der Ukraine ist für Russland enorm teuer. Seit 2021 hat sich der Militärhaushalt Russlands wegen des Krieges fast verdoppelt. Russland investiert derzeit rund ein Drittel seines gesamten Staatshaushaltes in das Militär (etwa 7 Prozent des BIP) – eine Belastung, die jetzt schon Spuren in der Wirtschaft hinterlässt. Für die nächsten Jahre sind hohe Wachstumsraten für den Militärhaushalt vorgesehen. Für 2026 sind fast 16 Billionen Rubel eingeplant.

Großwaffensysteme: In sieben der acht aufgeführten großen Waffenkategorien übertrifft die europäische Nato Russland. Beispielsweise verfügen die europäischen Nato-Staaten über 2067 Kampfflugzeuge, Russland über 1038. Ähnliche Verhältnisse gelten für die weiteren Waffenkategorien. Bei der Artillerie ist das Verhältnis 2,5:1 zugunsten von Nato-Europa, bei Kriegsschiffen 4:1. Lediglich bei nuklearwaffenfähigen strategischen Bombern ist Russland überlegen, während sie in den europäischen Streitkräften nicht verfügbar sind. Doch verfügen Frankreich und Großbritannien über Atomwaffen, die eine Zweitschlagkapazität sichern.

Der Autor

Prof. Dr. Herbert Wulf (i. R.) leitete acht Jahre das Bonn International Center for Conflict Studies. Er war Berater des UN-Entwicklungs­programms UNDP zu Abrüstungs­fragen und Waffen­kontrolle und forschte am Stockholm International Peace Research Institute (Sipri). Wir ver­öffent­lichen hier die gekürzte Fassung eines Beitrags aus der Zeitschrift »Wissen­schaft & Frieden«. Herausgegeben wird sie seit 1983 von friedenspolitischen Organi­sa­tionen und Initiativen.
wissenschaft-und-frieden.de

Russland hat in vielen Waffenbereichen einen erheblichen technologischen Rückstand auf die Nato. Es kann jetzt die bei der Invasion in der Ukraine erlittenen Waffenverluste nur annähernd ausgleichen, indem es eingemottete Waffensysteme reaktiviert, beispielsweise 50 Jahre alte Panzer. Die Verluste in der Ukraine waren zu groß, um sie durch die Produktion neuer Waffen voll ausgleichen zu können. Diese Lücke wird jedoch zum Teil mit dem Hochfahren der Rüstungsproduktion geschlossen.

Truppenstärke: 2023 hatten die europäischen Nato-Staaten 1,91 Millionen Soldat*innen unter Waffen. Finnland und Schweden, die zusammen über 100 000 Soldat*innen verfügten, kamen 2023 bzw. 2024 als Nato-Mitglieder hinzu. Außerdem verfügt die Nato über ein großes Reservoir an Reservist*innen. Für Russland nennt die Studie »Military Balance« 1,134 Millionen aktive Streitkräfte. Russland hat Schwierigkeiten, genügend Soldaten für den Krieg in der Ukraine zu mobilisieren. Trotz verschiedener Rekrutierungsrunden ist angesichts der Verluste und Desertionen zu bezweifeln, dass eine nennenswerte Erhöhung der Truppenstärke in Russland erreichbar ist. Laut »Military Balance« lagen die Rekrutierungen 2024 niedriger als im Jahr zuvor.

Rüstungsbeschaffung und -produktion: Die Nato-Staaten dominieren den weltweiten Rüstungsmarkt mit über 70 Prozent des Gesamtumsatzes (der 100 größten Rüstungsfirmen der Welt), während Russlands Anteil hier lediglich 3,5 Prozent ausmacht. Von den 100 weltweit größten Rüstungskonzernen sind 41 aus den USA, 25 aus Europa. Die europäischen Nato-Staaten haben erhebliche finanzielle Mittel bereitgestellt, um die Rüstungsproduktion auszuweiten und die weitere Aufrüstung und Modernisierung voranzutreiben. Weltweit, auch in den USA und Europa, ist die Rüstungsproduktion gestiegen. Armin Papperger, Chef des größten deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall, sprach bei der Vorstellung des Geschäftsberichtes 2024 von einer »Epoche der Aufrüstung«. Die Aktienkurse vieler Rüstungsunternehmen sind drastisch gestiegen.

Russlands Rüstungsindustrie ist ein weitläufiges Konglomerat mit fast 6000 Unternehmen, von denen viele vor dem Krieg selten Gewinne erwirtschafteten. Sie wirtschafteten nicht besonders effizient, hatten aber freie Kapazitäten, die ab 2022 hochgefahren wurden. Russlands Wirtschaft entwickelte sich zu einer Kriegswirtschaft. Der Staat hat damit begonnen, massiv in die Wirtschaft einzugreifen. Der Umsatz der beiden größten russischen Rüstungsfirmen, die in der Sipri-Liste der Top-100-Rüstungsfirmen aufgeführt sind, stieg 2023 um 40 Prozent. Die einseitige Forcierung der Rüstungsproduktion hat jedoch weitreichende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in anderen Sektoren, führt zunehmend zu Engpässen auf dem Arbeitsmarkt und ist Treiber der hohen Inflation. Die Inflationsrate lag Ende 2024 knapp unter 10 Prozent.

Atomwaffen: Ein rein quantitativer Vergleich der Atomwaffenarsenale verbietet sich angesichts der gesicherten gegenseitigen Vernichtungsfähigkeit. Es ist ein nukleares Patt zu bilanzieren. Ohne die USA (3700 Sprengköpfe + 1577 ausgemustert) sind die europäischen Staaten (Frankreich 290 Sprengköpfe und Großbritannien 225 Sprengköpfe) Russland (4299 Sprengköpfe + 1150 ausgemustert) klar unterlegen. Die Atomwaffen bleiben das größte russische Faustpfand. Allerdings gilt weiterhin die alte Regel des nuklearen Patts: Wer Atomwaffen einsetzt, muss mit einem Zweitschlag und der eigenen Vernichtung rechnen. Die Zweitschlagkapazität ist durch die U-Boot-gestützten Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens gegeben.

Russlands militärische Fähigkeiten im Ukraine-Krieg

Russlands Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 begann mit falschen Annahmen über den Verlauf des Krieges, sowohl aufseiten der russischen Führung als auch in der Ukraine und in der Nato. In einer Studie der International Crisis Group heißt es: »Moskau scheint davon ausgegangen zu sein, dass ein gut vorbereitetes russisches Militär auf kooperative regionale und lokale ukrainische Beamte und ukrainische Bevölkerung treffen würde, während die westlichen Hauptstädte eingeschüchtert wären.« Damit hatte sich die russische Führung verkalkuliert.

Aber auch ukrainische und viele westliche Expert*innen lagen mit ihrer Einschätzung falsch. Sie teilten die Auffassung Moskaus, dass Russland den Krieg in kurzer Zeit gewinnen könne. Russlands Berichterstattung über die eigenen militärischen Fähigkeiten sowie das Agieren in Syrien und in der Ukraine seit 2014 verleitete sie dazu, Russlands Fähigkeiten weit zu überschätzen. Die ukrainische Armee, die sich seit 2014 im Krieg befand, war darauf vorbereitet, Widerstand zu leisten.

Nach der für Russland verlustreichen ersten Phase des Krieges änderte die russische Führung die militärische Strategie und versuchte nun, einerseits die Ukraine durch systematische Angriffe auf die Infrastruktur zu demoralisieren und andererseits schlecht ausgebildete Soldat*innen in großer Zahl als Kanonenfutter an die Front zu schicken, um ukrainische Stellungen zu überlaufen. Mit politischer, wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung aus EU und Nato gelang es der Ukraine, den Angriff abzuwehren, aber nicht grundsätzlich zu stoppen.

Lawrow für Nichtangriffsgarantie

Russland ist nach den Worten von Außen­minister Sergej Lawrow bereit zu einer Nicht­angriffs­garantie für EU- und Nato-Staaten. »Wir haben mehrmals gesagt, dass wir nicht die Absicht hatten und haben, irgend­ein derzeitiges Nato- oder EU-Mitglied anzugreifen«, sagte Lawrow dieser Tage bei einem Sicherheitsforum für den eurasischen Raum. Russland sei »bereit, diese Position in künftigen Sicherheits­garantien für diesen Teil Eurasiens zu verankern«. Er kritisierte, dass führende EU-Politiker »echte kollektive Sicherheitsgarantien« verweigerten. Auch bei einem Ende des Ukra­ine-Krieges wollten sie nur Garantien gegen Russland, aber nicht mit Russland, so Lawrow. Reaktionen westlicher Politiker sind bisher nicht bekannt. Einer Sprecherin des Auswärtigen Amtes zufolge will die Bundesregierung nicht auf den Vorschlag eingehen.  dpa/nd

Russlands militärische Performance in der Ukraine ist keineswegs besonders erfolgreich. Die Zahlenangaben über die russischen Verluste schwanken. In einer aktuellen Studie des Center for International and Strategic Studies heißt es: »Russland wird im Sommer 2025 wahrscheinlich die Marke von einer Million Opfern erreichen – ein erschreckender und düsterer Meilenstein.« Weiterhin heißt es dort, dass relativ wenig ukrainisches Territorium erobert werden konnte und immer mehr Zeit dafür benötigt wird. Schließlich sind auch die Verluste an Waffensystemen sehr hoch. Laut »Military Balance« verlor Russland über 4000 Kampfpanzer, rund 1200 selbstfahrende Artilleriegeschütze und über 3000 Schützenpanzer.

Die russischen Streitkräfte konnten einiges an Territorium besetzen, dennoch ist der von Expert*innen erwartete Zusammenbruch der ukrainischen Armee nicht erfolgt. Die Erwartung aber, dass Russland der Atem ausgehen würde, sei es wegen der hohen Verluste oder auch wegen des Drucks der Sanktionen, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. Das russische Militär zeigte, dass es weiterhin bereit ist, die Ziele des Kremls mit militärischen Mitteln zu erreichen. Andererseits bewies die Ukraine ihre Fähigkeit, massiven Angriffen zu widerstehen, selbst in Zeiten, als sie nur sehr restriktive Unterstützung aus dem Westen erhielt.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass auch die heutige Struktur und Ausrüstung der russischen Streitkräfte mutmaßlich nicht geeignet ist, in Kürze einen erfolgreichen militärischen Angriff auf ein Nato-Land durchzuführen. Für die russische Armee wäre ein Angriff auf die Nato in Europa ein ungleich höheres Risiko als gegen die deutlich kleinere Ukraine. Russland friedliche Absichten zu unterstellen, wäre naiv. Gleichzeitig aber sollte man bei der Beurteilung der militärischen Fähigkeiten Russlands nicht nur seine Stärken in den Blick nehmen, sondern auch die Schwächen, und bei der Beurteilung der Fähigkeiten der Nato nicht in Panik verfallen. Denn dies führt nur zu einem unnötigen Anheizen der Aufrüstungsspirale.

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