Zustellbranche: Die Last mit den Paketen

Verdi kämpft für eine 20-Kilogramm-Obergrenze. Reformen in der Versandbranche sind ins Stocken geraten

  • Malte Seiwerth
  • Lesedauer: 8 Min.
Im Versandhandel stemmen Beschäftigte täglich schwere Pakete – die Belastung ist enorm.
Im Versandhandel stemmen Beschäftigte täglich schwere Pakete – die Belastung ist enorm.

Die Nachtschicht neigt sich dem Ende zu. In der Halle surren die Förderbänder, während die letzten Pakete aus aller Welt sortiert werden. Namen großer Onlinehändler ziehen im grellen Licht auf dem Laufband vorbei, und den Beschäftigten ist die Müdigkeit längst ins Gesicht geschrieben.

Die Gewerkschaft Verdi hat zu einem Betriebsbesuch im DHL-Depot in Rüdersdorf eingeladen. Mit dabei ist die Berliner Senatorin für Arbeit und Soziales, Cansel Kiziltepe (SPD). Sie soll vor Ort erleben, wie belastend die Arbeit im Paketversand ist – und damit eine Kampagne der Gewerkschaft unterstützen, die eine Gewichtsobergrenze von 20 Kilogramm pro Paket fordert. Auch die Deutsche Post befürwortet die Initiative, allerdings nur unter einer Bedingung: Sie soll für alle Unternehmen der Branche gleichermaßen gelten. Was Kiziltepe bei ihrem Besuch zu sehen bekommt, ist nur ein Ausschnitt aus einer Branche im Dauerstress.

Seit der Markt geöffnet wurde, hat die Post ihr Monopol längst verloren. Der Boom des Online-Handels treibt das Paketgeschäft an – und mit ihm den Konkurrenzdruck. Der Preiskampf zwischen den Zustellfirmen wird dabei vor allem auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen.

Die schwere Arbeit frustriert

Bis zu 31,5 Kilogramm dürfen Pakete wiegen – ein Gewicht, das viele Beschäftigte an ihre körperlichen Grenzen bringt. Katharina Lemm verzieht das Gesicht, als sie an ihre ersten Tage im Betrieb zurückdenkt. »Für mich als Frau war das sehr schwer«, sagt sie. »Ich habe damals 38,5 Stunden gearbeitet, und das Wochenende war hin. Da ging gar nichts mehr.« Heute ist Lemm Teamleiterin – und sichtlich bedrückt über die Lage ihrer Kolleg*innen.

Trotz modernster Technik bleibt im Paketzentrum vieles Handarbeit. Scanner lesen Adressen, Maschinen sortieren nach Postleitzahlen – doch die entscheidenden Handgriffe erledigen Menschen. Sie heben die angelieferten Pakete aus den Containern, setzen sie aufs Förderband und stapeln sie nach der Sortierung wieder in Rollwagen. Dabei zählt jede Minute: Bis sieben Uhr morgens muss alles verladen sein, damit die Lastwagen pünktlich starten können.

Der Druck führe dazu, dass die Pakete häufig nicht rückenschonend angehoben werden, erklärt Lemm. »Das Gewicht merkt man später überall, in jedem Gelenk, besonders im Rücken.« Sie schätzt, dass jede Person täglich gut eine Tonne bewegt. »Für das, was man mit dem Körper über die Jahre macht, ist die Vergütung einfach nicht viel«, ergänzt sie. Laut aktuellen Stellenausschreibungen erhält eine neu eingestellte Person im Versandzentrum einen Stundenlohn von 16,60 Euro.

Offizielle Zahlen zu Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten gibt es nicht – weder von der Post noch von der Gewerkschaft. Am Tor des Versandzentrums hängt lediglich ein Zettel über den letzten Unfall Mitte Oktober: Ein Paket fiel auf den Fuß einer Arbeiterin. Als Maßnahme steht darunter: »Achtsamer arbeiten«.

Auch die Berufsgenossenschaft Verkehr (BG Verkehr) kann nur grobe Angaben machen. Ihre Statistik fasst mehrere Branchen zusammen, eine genaue Auswertung für Paketzentren gibt es nicht. Im Bereich Post und Telekom verzeichnete die BG Verkehr zwischen 2020 und 2023 jährlich 28 bis 63 Verfahren wegen Rückenbelastungen durch Heben und Tragen – von der Versicherung anerkannt wurden davon jeweils höchstens ein Fall pro Jahr. Die Zahlen stehen im Widerspruch zu dem, was Beschäftigte wie Katharina Lemm berichten – und werfen die Frage auf, ob die Belastung unterschätzt oder schlicht zu selten anerkannt wird.

Das Geschäft boomt

Seit der Marktliberalisierung in den 1980er Jahren konkurrieren die Post- und Paketdienstleister erbittert um Kundschaft. Während der Briefmarkt schrumpft, wächst das Paketgeschäft – vor allem durch den Onlinehandel – stetig weiter.

Laut Bundesnetzagentur stieg der Umsatz der Paketdienste von 2020 bis 2024 von elf auf mehr als 15 Milliarden Euro. Im vergangenen Jahr wurden rund 3,8 Milliarden Pakete verschickt – 1,6 Milliarden mehr als 2009. Etwa 40 Prozent davon lieferte die DHL, eine Tochter der Deutschen Post.

Der Preiswettbewerb hat die Löhne gedrückt. Schon 2007 zeigte eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, dass Beschäftigte bei privaten Zustellern teils 30 bis 60 Prozent weniger verdienten als bei der Deutschen Post. Ursache sind fehlende Tarifverträge und ein undurchsichtiges Netz aus Subunternehmen, das gewerkschaftliche Organisation oft verhindert.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. »Im Sumpf der Subunternehmen haben wir bei privaten Zustellern kaum Chancen, Betriebsräte oder Gewerkschaften zu gründen«, sagt Aris Harkat von Verdi. Die jüngsten Streiks bei Amazon zeigen, wie sehr der Wettbewerb auf Kosten der Beschäftigten geht.

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen bemüht sich die DHL, ein Image als fairer Arbeitgeber zu pflegen. Das Unternehmen arbeitet eng mit den Gewerkschaften zusammen und unterstützt die Kampagne für eine 20-Kilogramm-Grenze. Pressesprecherin Anke Blenn sagt: »Wir sehen uns als Vorreiter. Aber wichtig ist, dass – egal mit welchem Dienstleister der Absender seine Pakete verschickt – alle möglichst faire Arbeitsbedingungen haben.«

Rosig sind die Arbeitsbedingungen aber selbst bei der DHL nicht. Viele Beschäftigte lehnen bei dem Besuch der Senatorin Gespräche ab. Auf Fragen zu ihrer Arbeit reagieren sie nur mit einem grimmigen Lächeln. Teamleiterin Lemm sagt bestimmt, sie spüre keine Unterstützung des Unternehmens: »Man merkt, dass manche Sachen von oben gut durchgeplant sind, aber hier unten überhaupt nicht umsetzbar sind.«

Kein Wunder, dass der Beruf an Attraktivität verliert und Arbeitskräfte fehlen. Statt die Beschäftigungsbedingungen zu verbessern, setzen DHL und andere Unternehmen zunehmend auf Zeitarbeiter*innen – viele davon mit Migrationsgeschichte. Immer lauter werden daher Forderungen nach einer vereinfachten Anerkennung ausländischer Führerscheine. Beliebt ist die Arbeit dennoch nicht. Wer kann, sucht sich einen anderen Job. Die Fluktuation in der Branche ist hoch. In Foren und Chatgruppen von Migrantinnen in Berlin reihen sich Jobangebote an Warnungen. Besonders unbeliebt ist dabei Amazon, das derzeit ein eigenes Zustellsystem aufbaut.

Eine Sackkarre hilft nicht

Senatorin Cansel Kiziltepe geht während ihres Besuchs an den Laufbändern entlang, packt kurz mit an und hebt Pakete auf die Förderbänder. Als sie ein besonders großes entdeckt, versucht sie vergeblich, es allein anzuheben.

Nach dem Rundgang lobt sie die Arbeit von Verdi und erinnert daran, dass sie die 20-Kilogramm-Grenze in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung eingebracht hat. Den FDP-Vorschlag, schwere Pakete stattdessen mit Sackkarren zu bewegen, hält sie für unrealistisch: »Wir haben hier gesehen, dass das mit Hilfsmitteln einfach nicht handhabbar ist.«

Auch bestehende Regelungen greifen kaum, sagt Kiziltepe. Ab Januar müssen Pakete über zehn Kilogramm eigentlich gekennzeichnet werden – »doch wenn die Aufkleber überhaupt angebracht sind, sind sie so winzig, dass man sie kaum erkennt.« Gewerkschaftssekretär Harkat ergänzt: »Genau deshalb organisieren wir solche Besuche, damit die Verantwortlichen sehen, wie hart die Arbeit wirklich ist, und verstehen, dass es bei der Gewichtsgrenze nicht nur um die Auslieferung geht.«

Bereits im August dieses Jahres hatte Verdi gemeinsam mit Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner (CDU) einen ähnlichen Betriebsbesuch organisiert. Anders als die CDU auf Bundesebene unterstützt Wegner die Forderungen der Gewerkschaft nach besseren Arbeitsbedingungen. Spürbare Fortschritte sind bislang jedoch ausgeblieben – im Gegenteil: Auf Bundesebene zeichnet sich eher ein Trend ab, der Arbeiter*innenrechte weiter schwächt.

Nicht nur in der Politik stößt die Forderung nach einer 20-Kilogramm-Grenze auf Zurückhaltung – auch die Berufsgenossenschaft Verkehr sieht die Idee kritisch. »Aus Sicht der zuständigen Branchenfachgruppe erscheint eine Begrenzung der Paketgewichte auf 20 Kilogramm nicht zielführend«, teilt sie auf Anfrage mit. Vorrangig sei es, bestehende Regelungen – etwa zur Kennzeichnung schwerer Pakete – endlich konsequent umzusetzen. Tatsächlich liegt der Anteil der Pakete mit mehr als 20 Kilogramm derzeit nur bei rund 1,75 Prozent.

Ihre Skepsis begründet die Berufsgenossenschaft vor allem mit möglichen Nebenwirkungen einer solchen Regelung. Sie warnt davor, dass schwerere Pakete bei einer 20-Kilogramm-Grenze in andere Logistikbereiche ausgelagert werden könnten: »Das Problem wäre nicht gelöst, wenn eine andere Anbietergruppe, die nicht den Schutzvorschriften des Postgesetzes unterliegt, die Zustellung der schweren Pakete übernimmt.«

Doch während hierzulande noch über Sinn und Unsinn einer Gewichtsgrenze gestritten wird, haben andere Staaten längst gehandelt. Bereits 1967 verabschiedete die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ein Übereinkommen über die höchstzulässige Traglast für Beschäftigte. Darin heißt es: »Die Beförderung von Traglasten, deren Gewicht die Gesundheit oder Sicherheit des Arbeitnehmers gefährden könnte, darf weder verlangt noch zugelassen werden.« Eine konkrete Obergrenze nennt das Abkommen jedoch nicht. Chile legte 2018 auf dieser Grundlage maximale Traglasten von 25 Kilogramm für Männer und 20 Kilogramm für Frauen fest – andere lateinamerikanische Länder folgten. Der internationale Vergleich macht klar: Vorschriften können Orientierung bieten, doch sie lösen das Grundproblem nicht – die Belastung in der Branche bleibt hoch.

Am Ende gilt: Eine bloße Gewichtsbegrenzung wird kaum ausreichen. Nur wenn die Arbeitsbedingungen insgesamt verbessert und die Beschäftigten entlastet werden, kann sich die Situation in der Paketbranche wirklich ändern. Solange Unternehmen trotz Personalmangels keine Konsequenzen ziehen, dürfte der Unmut der Zusteller*innen weiter wachsen.

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