Stahlindustrie: Erhitzte Märkte, kalte Werke

Auch in Deutschland sollen Zölle die Stahlindustrie vor globalen Überkapazitäten schützen

Die Branche benötigt verlässliche Energieversorgung zu planbaren und wettbewerbsfähigen Preisen.
Die Branche benötigt verlässliche Energieversorgung zu planbaren und wettbewerbsfähigen Preisen.

Bundeskanzler Friedrich Merz lädt am Donnerstag zum Stahlgipfel nach Berlin. Er wird dort mit Ministerpräsident*innen, Branchenvertreter*innen und Gewerkschaften zusammentreffen. Neben einer Strompreisbremse für die Industrie wird auch über Schutzzölle für außereuropäischen Stahl sowie Quoten für in der EU hergestellte Produkte beraten.

Hintergrund ist die seit Jahren anhaltende globale Überproduktion in der Stahlindustrie, vor allem in China. Vor dem Stahlgipfel kritisierte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, chinesische Konkurrent*innen brächten Produkte »50 Prozent unter Marktpreis« nach Deutschland. In der Volksrepublik China wurde 2024 mit über einer Milliarde Tonnen mehr als die Hälfte des weltweiten Stahls produziert. Und die Tendenz ist steigend, wie aus Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervorgeht.

Der Handelskonflikt zwischen den USA und China hat den Preisdruck für hiesige Hersteller dramatisch erhöht. Die Vereinigten Staaten schützen ihren Markt mit Zöllen, wodurch Überschüsse nach Europa gelenkt werden. Das senkt die ohnehin geringe Nachfrage nach vergleichsweise teurem EU-Rohstahl. Die Produktion in Deutschland sank im ersten Halbjahr 2025 um fast zwölf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Seit der Finanzkrise 2009 ist dies der niedrigste Stand.

»Die EU droht zwischen den beiden Blöcken USA und China zerrieben zu werden«, bringt Sabine Stephan, Referatsleiterin Außenhandel beim gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), im Gespräch mit »nd« die Lage auf den Punkt. Beide Großmächte verfolgen eine aggressive Industriepolitik und verstoßen mehr oder weniger unverhohlen gegen WTO-Regeln. In dieser Situation müsse die EU handeln, um ihre Industrie zu schützen, unterstreicht Stephan.

Dazu hat die Europäische Kommission Anfang Oktober Maßnahmen vorgeschlagen. Der Umfang zollfreier Importe soll auf 18,3 Millionen Tonnen pro Jahr sinken, was einem Rückgang von 47 Prozent gegenüber dem bisherigen Niveau entspricht. Für Mengen darüber soll ein Zollsatz von 50 Prozent gelten. Zudem will die Kommission über 100 Milliarden Euro in die Kreislaufwirtschaft, also in Recycling und die Wiederverwendung von Rohstoffen, investieren. Die Bundesregierung kommentierte die konkreten Pläne auf Anfrage nicht.

»Die EU droht zwischen den beiden Blöcken USA und China zerrieben zu werden.«

Sabine Stephan Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)

Um die Stahlindustrie zu entlasten, hat CDU-Wirtschaftsministerin Katherina Reiche zuletzt eine sogenannte Industriestrompreisbremse in Aussicht gestellt. Ab dem kommenden Jahr sollen rund 2 000 energieintensive Unternehmen fünf Cent pro Kilowattstunde zahlen. Der aktuelle Industriestrompreis liegt laut dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft bei 17,8 Cent.

Der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl (WV Stahl), Gunnar Groebler, unterstützt den Vorschlag und bezeichnet auch die Importzölle als »ausgewogen« und »überlebenswichtig«. Die Sorgen des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA), dass Importzölle zu steigenden Preisen führen könnten, teilt die Vereinigung nicht.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) fordert neben einer dauerhaften Senkung der Strompreise eine »effizientere Energieversorgung« und »den zügigen Aufbau einer Infrastruktur für Wasserstoff«. Es sieht andernfalls hunderttausende Arbeitsplätze sowie das Erreichen der Klimaziele in Gefahr.

Eine aktuelle Studie der Ökonomen Patrick Kaczmarczyk und Tom Krebs, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde, unterstreicht die enorme Bedeutung der Stahlindustrie. Die Ökonomen warnen: Würde Deutschland seine Primärstahlproduktion verlieren, würde das die strategische Abhängigkeit erhöhen. Ein globaler »Stahlschock« durch Lieferkettenbrüche oder geopolitische Konflikte könnte die deutsche Wirtschaft jährlich bis zu 50 Milliarden Euro (1,2 Prozent des BIP) kosten. Ohne den massiven Ausbau von grünem Stahl droht Deutschland eine Kapazitätslücke von zwölf Millionen Tonnen.

Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) fordert eine Strategie für industrielle Resilienz. Dafür sei »mehr europäischer Patriotismus« nötig. Schlüsselbereiche wie die Infrastruktur- und die Autoindustrie sollten bevorzugt heimischen Stahl nutzen. Mit dieser »Local-Content-Strategie« soll ein Vergaberecht durchgesetzt werden, das die Verwendung lokaler, klimafreundlicher Grundstoffe vorschreibt. Auch die IG Metall will die lokale Wertschöpfung stärken. Sie verlangt Investitionen sowie soziale Bedingungen wie Tarifbindung.

Doch sind solche Local-Content-Klauseln mit WTO-Regeln wahrscheinlich unvereinbar, weil ausländische Unternehmen benachteiligt werden. Da dürfte es auf die konkrete Ausgestaltung ankommen, erklärt IMK-Expertin Stephan. Zudem müsse die EU in dieser geopolitisch angespannten Phase entscheiden, ob sie im Interesse ihrer »strategischen Autonomie« und Sicherheit notfalls einen Regelverstoß in Kauf nimmt. Zumal die Ahndung von WTO-Verstößen derzeit faktisch unmöglich ist, da das Berufungsgremium der WTO seit der ersten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump nicht funktionsfähig ist.

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