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»Ich kann mich wehren«

Über 100 Menschen, die von Armut betroffen sind oder waren, vernetzen sich in Berlin

  • Ruta Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.
Kinder aus ärmeren Verhältnissen kriegen oft einen Stempel aufgedrückt, den sie ein Leben lang mit sich herumtragen.
Kinder aus ärmeren Verhältnissen kriegen oft einen Stempel aufgedrückt, den sie ein Leben lang mit sich herumtragen.

»Stellt euch vor, ihr seid ein Kind und wollt ins Schwimmbad, aber ihr habt kein Geld. Wie fühlt ihr euch?« Mit dieser gedanklichen Aufgabe für die Teilnehmer*innen beginnt Yvonne Schulze einen unter anderem von ihr geplanten Workshop zu Kinder- und Jugendarmut. Er ist nur einer von vielen Workshops auf dem Treffen der Menschen mit Armutserfahrung, das von Donnerstag bis Samstag in der Diakonie Berlin stattfindet. Über 100 Menschen, die von Armut betroffen sind oder waren, kommen hier zusammen, um für ihre Rechte einzustehen und sich im Kampf gegen soziale Ungleichheit zu vernetzen. Organisatorin ist die Nationale Armutskonferenz (nak), ein Verbund verschiedener Verbände und Initiativen.

Die Antworten auf die Frage von Schulze fallen sehr unterschiedlich aus: »Minderwertig«, »ausgegrenzt« und »Scham« antworten manche. Eine andere Teilnehmerin nennt »Wut« als Reaktion: »Warum ich und nicht die, würde ich mich fragen.« Die Antworten sind so unterschiedlich wie die Perspektiven der Teilnehmer*innen selbst. Tim Seywert berichtet, dass ihn das Jugendamt mit nur 17 Jahren auf die Straße setzte. Zurzeit gründet er eine Initiative für Kinder- und Jugendrecht. Eine andere Teilnehmerin arbeitet ehrenamtlich in einer Gruppe mit psychisch Kranken. Erika Heine ist wohnungslos und setzt sich in der Öffentlichkeit für die Vertretung von Menschen mit dieser Perspektive ein. Als »Lobbyistin der Straße« bezeichnet sie die Zeitschrift »Fluter«. »Ich fühle mich mittlerweile so stark, dass ich mich wehren kann«, erzählt Heine. Sie berichtet, dass sie auf der Straße auf Jugendliche trifft, die von der Psychiatrie und den Eltern aufgegeben wurden, die »krank gemacht wurden vom System«. Sie selbst versuche, diese jungen Leute mit kreativen und gewaltfreien Methoden zu stärken, hört ihnen nachts zu. »Ich bediene sozusagen das Systemfreie«, meint sie.

Laut Armutsbericht 2025 des Wohlfahrtsverbands Der Paritätische sind 15,5 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. 13 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Die zuletzt hohe Inflation verschärfte die Situation. »Gleicht man die Entwicklung der Median-Einkommen der Armen mit der Preisentwicklung ab, so zeigt sich, dass die Armen seit 2020 real noch ärmer geworden sind«, heißt es in dem Bericht. »Die Schutzwirkung des Sozialstaates vor Armut hingegen schrumpft«. Der Staat könnte die Armutsquote 2021 durch Umverteilung noch um 27,7 Prozentpunkte reduzieren, 2024 nur noch um 25,1 Prozentpunkte. Deswegen müssten die Sozialleistungen stark angehoben werden. Mit knapp einem Viertel seien junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren deutlich überdurchschnittlich von Armut betroffen. Dabei seien das oft Menschen, die sich gerade am Beginn einer Erwerbstätigkeit oder in beruflicher Ausbildung befänden.

»Armut ist falscher Reichtum«

Die Gründung der nak fand 1991 unter dem Motto »Armut ist falscher Reichtum« statt. Seitdem bildet sie die deutsche Sektion des europäischen Armutsnetzwerks European Anti Poverty Network, dem größten europäischen Netzwerk mit dem Ziel der Armutsbekämpfung. In der nak sind zwar Organisationen wie die Diakonie, die Caritas oder der Deutsche Gewerkschaftsbund vertreten. Doch vor allem Menschen mit Armutserfahrung spielten von Beginn an eine tragende Rolle, indem sie bis heute eigene Perspektiven und Lösungsvorschläge einbringen. »Armutserfahrene Menschen können und wollen ihre Interessen selbst verteidigen«, heißt es im nak-Bericht zum Treffen der Menschen mit Armutserfahrung 2024.

Laut Frank Hensel, dem nak-Sprecher von 2015 bis 2017, haben sich die Aufgaben der Armutsbekämpfung teilweise geändert: Während zur Gründungszeit der nak der weit verbreitete Gedanke existierte, es gebe keine Armut in Deutschland, musste die Konferenz das Thema erst einmal an die Öffentlichkeit tragen. Nach einer Zeit, in der Wissenschaftler*innen Studien zu Armut durchführten und gesellschaftliche Akteur*innen Debatten austrugen, stellt Jahrzehnte später vielmehr eine fehlende Umsetzung von Maßnahmen das größte Problem dar.

Ein offener Widerspruch

Die nak möchte Armut entindividualisieren, sie betrachtet sie als »Ausdruck struktureller Not und Ungleichheit«. Die politische Erklärung des diesjährigen Treffens lautet »Wir fordern: Fördern first!« Denn wer nur in Jobs vermittele, deren Bezahlung nicht zum Leben ausreichen, erzeuge »Drehtüreffekte«. Damit setzt sich die nak auch für eine zuverlässige armutsfeste Grundsicherung und gegen die geplante Bürgergeldreform ein. Die Debatten um letztere seien vielfach durch die Diskriminierung von Betroffenen geprägt, heißt es dazu im »Schattenbericht« der nak aus diesem Jahr. Die in Armut lebenden Menschen würden häufig als dafür selbst verantwortlich beschuldigt, weil sie faul oder arbeitsunwillig seien, so die Unterstellung. Der Bericht kritisiert, dass gleichzeitig aber nicht gefragt werde, »ob der Erwerb von Erbschaften oder Vermögen mit persönlicher Leistung verbunden ist. Dieser offene Widerspruch prägt nach wie vor die gesellschaftlichen Debatten und Machtdiskurse.«

Auch die Teilnehmer*innen in Schulzes Workshop kritisieren die Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen, die aus Familien mit Armutserfahrung stammen. Sie bekämen schnell den Stempel »Problemkinder« aufgedrückt. Das System ziehe sie mit, habe sie aber längst eigentlich aufgegeben. Laut Schulze wäre eine Gesellschaft ohne Kinder- und Jugendarmut deswegen eine »stärkere und gesündere Gesellschaft«. In dieser würden die Ideen und Talente von viel mehr Kindern einfließen. Schulze betont den positiven Ausblick: Aus einem stärkeren sozialen Zusammenhalt würden sich auch weniger gesellschaftliche Spannungen ergeben. »Es ist eine Investition, von der alle einen Vorteil haben«, meint sie.

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