Berlin: Mann betrat Büro!

Mein Leben lang habe ich eine Allergie gegen Nachrichten – aber die Biester finden mich überall

Stromausfall in Altglienicke
Stromausfall in Altglienicke

Um gegen die Künstliche Intelligenz ein Zeichen zu setzen, entsteht dieser Text unter krassen Real-Life-Umständen, von denen sich zum Beispiel die KI in ihrer arroganten Art gar keine Vorstellung macht: Während sie ihre Elektronen ungehindert durch smooth glitschende Leitermaterialien flitzen lässt, während sie unermüdlich mit Strom, Infos, Updates und Meta-Updates gefüttert wird – sitzt der Unterzeichnende dieser Zeilen in einem Großraumbüro voll quer gestapelter Tische und leerer Kartons, hungrig, müde, umgeben von Kollegen, die lautstark über Cache-Ordner diskutieren. Teuflische, krasse Bedingungen!

Aber eben auch abhärtende, stählende, Effizienz erzeugende Bedingungen, die erst das Äußerste aus der unterzeichnenden, biologisch generierten Intelligenz auszupressen vermögen; Widerstände und Härten aus der lauten, engen, riechenden, sonnenflirrenden 3D-Welt, die die KI niemals zu begreifen imstande sein wird. Oder wenigstens nicht vor nächster Woche.

Der Text, der in dieser mörderischen Mühle geschrieben werden muss, hat noch keinen absehbaren Verlauf, umso mehr wird er daher anheben mit einer verblüffenden, catchy Zeile, wie die KI sie in ihrer toten, berechnenden, berechneten Art nicht ersinnen könnte, etwa: »Mein Leben lang laufe ich vor Nachrichten davon.« Und los geht’s.

Triggerwarnung: Wenn Sie hier weiterlesen, könnte es zu gewalthaltigen Szenen kommen, etwa fliegt »ein halbgefüllter Plastikbecher gegen einen Monitor«, auch wird ein Stuhl umgerissen.

Mein Leben lang, liebe Lesende, liebe Vorlesenlassende, laufe ich vor Nachrichten davon. Nachrichten stehen, von ihrer inneren Verfasstheit her, meinem eigenen Wesen entgegen. Denn Nachrichten sind nur Nachrichten, wenn sie eine Ruptur verkünden, einen Ab-, Um-, Ein- oder Zusammenbruch. Eine abrupte, tendenziell katastrophale Veränderung der Welt.

Solche Sachen interessieren mich eigentlich nicht. Mich interessieren eher Anti-Nachrichten, also Dinge, die funktionieren. Dinge, die langsam wachsen. Die allmählich besser werden, ohne dass jeder Zwischenschritt heraustrompetet werden muss. Das Gute und Gesunde in der Welt ist niemals eine Nachricht. Denn alles Gute ist langsam. Daher haben Nachrichten schlechtes Karma, so wie Snickers, oder Porno.

So tickt der Bio-Algorithmus, der diesen Text hier erzeugt hat. Dergestalt, liebe Lesis, haben Sie sich den Schreibenden dieser Zeilen vorzustellen (und wenn Sie das können, bestätigen Sie, dass Sie kein Bot sind). In diesem ruheaffinen Wesen nun, unter seinen Kopfhörern, in seiner Wolke aus senegalesischer Popmusik, steigt ab und zu, wenn die lärmende Außenwelt es zur verschärften Innerlichkeit zwingt, ein Bedürfnis auf, sich seinen fernen Liebsten mitzuteilen, in einen Austausch zu treten mit den bitterlich vermissten verwandten Seelen.

Öffnet Typi also seine GMX-App. GMX, das sollte so eine Art Emailanbieter sein: Man nimmt Emails entgegen, oder schickt welche ab. Die Erfüllung dieser Aufgabe genügt GMX aber nicht. Aus welchen Gründen auch immer hat es beschlossen, die Aufmerksamkeit des Mail-Interessenten binden und fesseln zu wollen, und da GMX ohne Pornos und Snickers agieren muss, so poppen nun ständig News aus meinem Wohnort Berlin auf, wenn ich eigentlich Mails von meiner Freundin lesen mag, oder von den ganzen Literaturjurys, die mir ständig ihre Preise umhängen wollen. So öffne ich also, für einen Moment Sinn und Besinnung suchend, mein kleines geheimes Mail-Postfächlein auf. Mal sehen, wer mir zarte Zeilen geschrieben hat?

»Berlin: Fernsehturm angestrahlt!« »Lichtenberg: Tram von Fahrrad gerammt – Sachschaden!« »Berlin: Brandanschlag auf Baustelle gescheitert!« »Berlin: Menschen mit Macheten ...«. Wenn man doch wieder nicht widerstehen konnte und etwas angeklickt hat, erfährt man im Volltext: »Berlin. In einem Parteibüro der Grünen in Berlin-Kreuzberg hat ein Mann randaliert.« Bei Gott, das ist ja furchtbar! »Er betrat das Büro am Dienstagabend«, so GMX weiter, »und wollte mit sechs anwesenden Menschen über den Klimawandel diskutieren, wie die Polizei mitteilte.« Triggerwarnung: Wenn Sie hier weiterlesen, könnte es zu gewalthaltigen Szenen kommen, etwa fliegt »ein halbgefüllter Plastikbecher gegen einen Monitor«, auch wird ein Stuhl umgerissen, werden gar »mehrere Werbeaufsteller« beschädigt.

Die armen Angehörigen! Ich hatte ja keine Ahnung. Berlin ist gnadenlos. Hart. Grausam. Es ist die Stadt, die niemals Ruhe gibt, voller Brimborium, Exzess und Karambolagen. Diese Stadt, sie ist eine einzige Nachricht.

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