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»Ein Buch darf gern zum Fetisch werden«
Kommt man ohne Lesen in den Himmel? Teil 2: Die Booktokerin. Ein Gespräch mit Daria Razumovych
Anfang des Jahrs starb der Kölner Antiquar Klaus Willbrand im Alter von 83 Jahren. Sie hatten ihn auf Tiktok und Instagram bekannt gemacht – mit Buchempfehlungsclips. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Klaus hatte diese besondere Gabe, sein Gegenüber mit seinen Erzählungen über Literatur sofort in den Bann zu ziehen. So entstand überhaupt erst die Idee, und der Rest ergab sich fast von selbst: ein vergessenes Antiquariat, ein leidenschaftlicher Antiquar und eine ungewöhnliche Konstellation aus Alt und Jung – verbunden durch die gemeinsame Liebe zum Buch – und mein Social-Media-Know-how.
Sie bauten Willbrands Antiquariat zum viralen Social-Media-Phänomen auf. Wie gingen Sie dabei vor?
Klaus brachte Wissen, Witz und jahrzehntelange Erfahrung mit, ich das Gespür für Timing, Schnitt und Plattform. Ich stellte ihm Fragen über Dinge, die mich wirklich persönlich interessiert haben. »Würdest du den Beruf des Buchhändlers empfehlen?« und so weiter. Später haben wir dann feste Themenkategorien etabliert.
Wie sieht der typische Arbeitstag einer Booktokerin aus?
Ich verbringe viel Zeit auf Tiktok und Instagram und scrolle mich durch jede Menge Buchcontent – so bekommt man schnell ein Gespür dafür, welche Themen gerade relevant sind. Außerdem sitze ich viele Stunden in der Capcut-App und mache Community-Management quasi rund um die Uhr. Und irgendwo dazwischen: frische Luft und neue Lektüre.
Daria Razumovych ist Booktokerin, Antiquarin, Social-Media-Expertin, Lektorin. Mit dem Kölner Antiquar Klaus Willbrand veröffentlichte sie das Buch: »Einfach Literatur: Eine Einladung«, das im Sommer, nach Willbrands Tod, erschien.
Haben Booktoker eine buchmarktrelevante Wirkung?
Definitiv. Einige Booktok-Titel verkaufen sich bis zu 300 Prozent besser, nachdem sie viral gegangen sind. Das sind messbar relevante Zahlen.
Wie sollte ein ideales Booktok-Video aussehen?
Am besten wäre eins, in dem Klaus die Hauptrolle spielt. (lacht) Eine spannende Frage und eine unerwartete Reaktion darauf in den ersten drei Sekunden – etwa wenn das Gegenüber auf eine provokante Frage erst schweigt, lacht oder einfach sagt: »Kommt drauf an.« Und dann folgt eine ehrliche, tiefgründige Antwort.
Was ist von Booktok-Bestsellerlisten zu halten?
Ich halte davon nicht viel. Booktok liebt Romantasy und New Adult – ich kann damit nichts anfangen und bin auch nicht die Zielgruppe. Ich fände es schön, wenn junge Menschen wieder mehr Klassiker und moderne Literatur entdecken würden.
Warum gibt es so wenige männliche Booktoker?
Weil es zu wenig Bücher gibt, die Männer wirklich ansprechen. Das ist ein strukturelles Problem. Junge Männer lesen weniger, und das spiegelt sich online wider.
Kann ein Booktoker von seinem Job leben?
Das hängt stark von der Reichweite und den Kooperationen ab. Ich selbst arbeite strategisch im Hintergrund: Ich entwickle Social-Media-Strategien für Buchhandlungen, Verlage oder Autor*innen, schneide Videos, betreue Accounts und helfe dabei, Reichweite aufzubauen. Ich sehe mich als jemand, der etwas fürs Lesen tun will – und sich eine strukturelle Veränderung hin zu besserer Literatur wünscht.
Sind Sie ein Leseultra?
Wenn ich nicht gerade Videos für Kunden schneide oder Strategien entwickle, lese ich. Also ja. Wahrscheinlich schon. Manchmal ist es ein Buch die Woche, manchmal zieht sich die Lektüre über mehrere Jahre (Proust). Ich lese unheimlich viel parallel.
Welches Verhältnis haben Sie in Ihrer Arbeit zur Künstlichen Intelligenz? Ersetzt KI demnächst den Autor?
Die KI hilft mir gerade, meine Antworten für dieses Interview zu sortieren. Wenn es um Struktur, Ordnung oder Ideenentwicklung geht, ist sie hilfreich. Aber sie wird den Autor nie ersetzen.
Warum?
Weil gute Literatur Emotionen braucht. Eine KI hat keine – und sie kennt auch keine Schreibblockaden oder Selbstzweifel. Beides gehört aber zum Prozess, der ein gutes Buch erst möglich macht.
Thomas Mann oder Thomas Melle?
Thomas Mann. Ich stehe eindeutig auf der Seite der Klassiker.
Wer nicht liest, der hat schon? Haben Bücher eine Zukunft? Kann man ohne Lesen in den Himmel kommen? Eine Serie im nd-Feuilleton zum Stand der Buchkultur, einmal im Monat.
Warum sind die meisten lesenden Menschen Frauen?
Weil der Buchmarkt zu lange an Männern vorbeigeschrieben hat. Es braucht neue Themen, die auch Männer erreichen.
Welches Buch würden Sie gern Bundeskanzler Friedrich Merz auf den Nachttisch legen?
Tahsim Durguns »Mama, bitte lern Deutsch« wäre eine gute Wahl – vielleicht würde es ihm helfen, Empathie für Lebensrealitäten zu entwickeln, die mit seiner eigenen wenig zu tun haben. Oder Juli Zehs »Unterleuten«, damit er ein Gefühl für gesellschaftliche Spannungen bekommt.
Die britisch-albanische Popsängerin Dua Lipa zeigt sich im Internet von der belesenen Seite. Werden Bücher dank ihr zu neuen Fetischen der Generation Z?
Wenn Popkultur dazu führt, dass junge Menschen wieder gute Literatur lesen, dann darf das Buch gern zum Fetisch werden.
Wie beurteilen Sie Selbstvermarktungsstrategien wie Books on Demand (BoD)?
Eine großartige Möglichkeit, unabhängig zu publizieren. Aber auch eine Herausforderung, weil Marketing und Sichtbarkeit komplett an den Autor*innen hängen.
Welche Zukunft geben Sie dem Buchmarkt?
Die Buchmessen verzeichnen wieder steigende Besucherzahlen. Das liegt auch an der enormen Popularität von Young- und New-Adult-Literatur, die in den sozialen Medien eine große Bedeutung hat. Ich hoffe, dass Literatur insgesamt wieder eine größere gesellschaftliche Bedeutung bekommt und aus ihrer Rolle der bloßen Beobachterin heraustritt. Im Moment scheinen Reichweite und Performativität oft wichtiger zu sein als Inhalt. Mal sehen, ob sich in den nächsten Jahren eine Gegenbewegung entwickelt.
Gibt es wahre Seligkeit ohne Bücher?
Schon die Vorstellung ist absurd – und wäre selbst wieder Literatur.
Klaus Willbrand/Daria Razumovych: Einfach Literatur. Eine Einladung. Lese-Empfehlungen vom Antiquar und Tik-Tok-Star. Fischer-Verlag, 224 S., geb., 22 €
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