Nach der Reform ist vor der Reform

Barmer-Report: Warum sich die Zahl der Pflegebedürftigen zuletzt verdoppelt hat

Bewohnerinnen einer Demenz-Wohngemeinschaft legen gemeinsam Wäsche zusammen.
Bewohnerinnen einer Demenz-Wohngemeinschaft legen gemeinsam Wäsche zusammen.

Die Pflegeversicherung hat finanziell ein doppeltes Problem: Sowohl die Eigenanteile der Heimbewohner als auch die Beitragssätze der Versicherten steigen. Scheinbar ist das eine nur zu bremsen, wenn es bei dem anderen weiter aufwärts geht. Doch wo liegen die Ursachen für die steigenden Kosten wirklich und wie lässt sich das Problem nachhaltig lösen?

Diese Frage bewegt auch die gesetzlichen Pflegekassen, die jeweils den Krankenkassen zugeordnet sind. In ihrem neuen Pflegereport ging die Barmer der Frage nach, wie es zum Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen innerhalb weniger Jahre – nämlich zwischen 2015 und 2023 – gekommen ist. Der Report, erarbeitet vom Pflegeexperten Heinz Rothgang von der Universität Bremen, wurde am Donnerstag in Berlin vorgestellt.

Die stark gewachsene Zahl von Menschen, die von den Pflegekassen Leistungen erhalten, ist nur zu einem geringen Teil auf die älter werdende Gesellschaft zurückzuführen, lautet der Befund. Ganze 15 Prozent hat der Aufwuchs damit zu tun, in absoluten Zahlen: 2015 waren es drei Millionen Pflegebedürftige, 2023 dann schon 5,7 Millionen. Bezogen auf die Bevölkerung stieg der Anteil von 3,21 auf 6,24 Prozent.

Letztlich ist dieser Anstieg politischen Entscheidungen zu verdanken, und zwar einer gewollten Leistungsausweitung durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff im Jahr 2017. Damit wurde es erstmals auch möglich, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen, etwa mit einer Demenz, endlich angemessen im Pflegesystem berücksichtigt wurden, wie Rothgang erläutert. Dies zeigte sich nicht nur in der Einstufung nach Pflegegrad 1 (wenn keine anderen Beeinträchtigungen vorliegen), sondern auch bei den höheren Pflegegraden.

Unter anderem heißt das, dass Menschen mit langsam voranschreitenden Erkrankungen heute früher Pflegeleistungen erhalten und länger im System bleiben, erläutert Barmer-Chef Christoph Straub. Er sieht für eine gute Versorgung aller Betroffenen vor allem eine Lösung: ein Primärversorgungssystem. Darin sollte die Pflege aufgewertet und auch Teil einer sektorenübergreifenden Bedarfsplanung werden.

Nun wurde von der Bundesregierung im Sommer eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe geschaffen, die bis zum Jahresende Eckpunkte einer großen Pflegereform vorlegen soll. Eine solche ist längst überfällig, von den vorab bestimmten Kriterien her ist es aber fraglich, ob das gelingen kann. Denn es soll Mehrausgaben nur geben, wenn sie unmittelbar mit der demografischen Entwicklung zu tun haben.

Von anderen Möglichkeiten, die Pflegeversicherung finanziell zu entlasten, ist seitens der Bundesregierung aktuell keine Rede. Diverse Forderungen liegen schon lange auf dem Tisch, unter anderem die Begleichung von Pandemie-Schulden des Bundes bei der Versicherung im Umfang von knapp sechs Milliarden Euro. Oder die Bezahlung der Rentenversicherung von pflegenden Angehörigen eben nicht aus Beitragsgeldern, sondern aus Steuermitteln. Immerhin haben die Pflegekassen hierfür im Jahr 2023 3,7 Milliarden Euro in die Rentenversicherung eingezahlt. Zudem sollten laut Straub endlich die Bundesländer die Kosten für Investitionen und die Pflegeausbildung übernehmen und so die Pflegebedürftigen in Heimen entlasten.

Aber es gibt auch schon eine ältere Idee, die bereits einmal Eingang in den Koalitionsvertrag der rot-schwarzen Bundesregierung von 2005 gefunden hatte, nämlich einen Finanzausgleich mit der privaten Pflegeversicherung. Laut Gesundheitsökonom Rothgang würden dort nicht nur höhere Einkommen, sondern auch die »besseren Risiken« versichert, sprich: Menschen, die qua Bildung und Einkommen gesünder alt werden.

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