Rente – schon wieder

Die »Renten-Diskussion« gleicht einem geschlossenen Zirkel der Meinungsmanipulation, meint Alex Demirović

»Junge Wilde« oder Karrieristen? - beim Deutschlandtag der Jungen Union
»Junge Wilde« oder Karrieristen? - beim Deutschlandtag der Jungen Union

Falls es von Bismarck so gedacht war, die revolutionäre Arbeiterbewegung durch Sozialversicherungen, also auch durch die Rente, zu zersetzen, dann hat er Erfolg gehabt. Vielleicht nicht in dem Sinn, dass nun alle gut abgesichert wären und mehr zu verlieren haben als ihre Ketten. Vielmehr aufgrund von Erschöpfung durch den langen Atem der Herrschenden und der von ihnen bezahlten Bauchredner*innen, die uns bereitwillig belügen.

Uns, den mittleren und unteren Zeitgenoss*inen dieser Gesellschaft, wird eine Rentendiskussion in Endlosschleife zugemutet. Immer noch und schon wieder geht es um eine Reform. Jeden Tag hören wir in den Nachrichten von zu hohen staatlichen Ausgaben, demographische Entwicklungen und Alterspyramiden, von den jungen Wilden der CDU, die mit ihren Angriffen auf Friedrich Merz ihre Karriere als Funktionäre vorbereiten. Es ist ein geschlossener Zirkel der Meinungsmanipulation: Die Meinungsmacherinstitute geben vor, die Stimmung in der Bevölkerung zu erfragen; diese wiederholt brav, was die Politiker in Interviews, Talkshows oder im Bundestag so von sich geben. Diese berufen sich wiederum auf die Wirtschaft, deren Verbände, die Wirtschaftsweisen, die Experten. Die Medien wiederum berichten über die Ergebnisse der Befragungen und die Diskussionen der Experten.

Eine Diskussionsrunde dieser Tage war besonders beeindruckend: die bei Maischberger – geprägt von antidemokratischem Geist und dem reaktionären Ijoma Mangold. Er sieht sich als Liberaler, aber hadert mit Lindner, weil dieser ein zu zögerlicher Minister war. Milei und Kettensäge sind Mangolds Modell. Er redet vergnügt-selbstverliebt, gibt sich kritisch, nachdenklich – das ist überhaupt die Geste der Reaktionäre heutzutage. Er spricht davon, dass in Deutschland Diskurse etwas bewirken können. Habermas hätte seine helle Freude daran, wie Mangold dessen These anwendet, dass deliberative Diskurse die Parlamente, die Politik mit öffentlich vorgebrachten Argumenten belagern und Einfluss entfalten.

Alex Demirović

Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.

Mangold lobt Schröders Agenda 2010. Da hätten sich die Argumente schließlich durchgesetzt, am Ende wären die Arbeitslosenzahlen deutlich reduziert gewesen. Eigentlich hat Mangold keine Argumente für seine Propaganda. Denn die Zahlen, die er verwendet, sind tendenziös oder falsch. Reguläre Beschäftigungsverhältnisse wurden durch die Agenda 2010 in Minijobs verwandelt, es war ein disziplinierendes Verarmungsprogramm. Die »neuen« Jobs werden heute durch öffentliche Mittel noch bezuschusst. Aus dem Blick gerät, dass diese Beschäftigtengruppen, wenn überhaupt, nur gering in die Rente einzahlen. Es sind ca. 10 Millionen Menschen. Sie tragen zur Krise der Rentenversicherung bei.

Auch die Selbständigen, die Beamten, die Mandatsträger tragen zur Krise bei, denn sie alle könnten in die Rentenversicherung einzahlen. Es wäre ein Beitrag zur Gerechtigkeit, und gerecht wäre, wenn sie endlich auch einmal betroffen wären von der von ihnen geführten Endlosdiskussion über die Rente, die nicht sie, sondern nur die anderen betrifft.

Besonders beeindruckend war die Diskussionsrunde bei Maischberger – geprägt von antidemokratischem Geist und dem reaktionären Ijoma Mangold.

Den Vielredner*innen liegt die Generationengerechtigkeit am Herzen. Doch damit meinen sie nicht: Hört auf, Glyphosat auf Felder zu sprühen, das führt zu Krebs. Oder: Kein Zurück beim Verbrenner-Aus, denn dann steigen die CO2-Emissionen weiter und der Klimawandel wird noch schlimmer.

Ihre Propaganda hat es etwas Anderes im Sinn: Die Lohnabhängigen sollen länger arbeiten, die Arbeitgeber geringere Löhne zahlen können. Sie sagen, die Generationengerechtigkeit wäre verletzt, wenn die Jungen zwar in die Rente einzahlen, aber aufgrund der Altersstruktur später nicht mit einer entsprechenden Rente rechnen können. Doch das ist demagogisch. Denn, wenn die Jungen nicht in die Rente einzahlen, werden sie selbst keine Anrechte erwerben, also durch ihre Gefälligkeit gegenüber den Reichen die Bedingungen schaffen, unter denen sie später selbst leiden werden. Private Vorsorge übrigens ist keine Perspektive, denn die hängt von den krisenhaften Kapitalrenditen ab, die durch Natur- und Menschenausbeutung auf dem Weltmarkt erzielt werden. Von privaten Renten profitieren in erster Linie die Unternehmen der Versicherungsindustrie.

Steigende Produktivität, fallende Renten

Im Prinzip wird Deutschland fast jedes Jahr reicher. Die Arbeitsproduktivität ist seit 2015 ebenso gestiegen wie die Bruttowertschöpfung. Die Beschäftigten haben jedes Jahr (mit Ausnahme des Pandemiejahres 2020) mehr geleistet als im Jahr zuvor.

Es ist ein Armutszeugnis, dass die deutsche Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr an Rente zahlt, die Sozialausgaben irgendwo im europäischen Mittelfeld vor sich hindümpeln. Die Sozialausgabenquote ist gestiegen, weil die Wirtschaftsleistung sinkt. Diese sinkt, weil die globalen Entwicklungen ihr entgegenstehen: Es ist Ergebnis von Umweltkrise, Kriegen und Aufrüstung. Heute gibt es das Feuerwerk der Aktienkurse für Rüstungsunternehmen, doch damit wird ein Mangel an Wirtschaftsleistung und Produktivität morgen vorbereitet.

Der Maßstab kann nicht die Steigerung der Kapitalerträge sein. Die Produktivität erzeugt mehr Wohlstand. Vieles davon ist nicht notwendig, viele Arbeiten braucht niemand. Paul Lafargue erwartete bereits Ende des 19. Jahrhunderts, dass aufgrund steigender Produktivität drei Stunden Arbeit täglich ausreichen würden. Und um wieviel reicher sind wir seit 1880 geworden? Niemand müsste mehr hungern, niemand um den Arbeitsplatz bangen.

Der Kapitalismus ist am Ende. Der Autor Douglas Rushkoff zeigt in seinen Recherchen, dass die Supermilliardäre ihr Geld in Bunkernetzwerke fernab der Städte stecken, dass sie die Flucht nach Neuseeland vorbereiten oder die Auswanderung auf den Mars. Sie glauben, dass sie clever sind und bestehende gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten besonders gut ausnutzen können. Sie sehen ihr Verhalten als Zeichen ihrer Intelligenz und denken, sie könnten allein überleben. Sie können nicht glauben, dass sie mit dem, was sie tun, die Zukunft zerstören.

Wir brauchen eine Disruption. Neue Verhältnisse, in denen wir eigentlich keine Rente mehr benötigen, weil wir wie selbstverständlich eine Wohnung bewohnen können, für Lebensmittel gesorgt ist, wir medizinisch versorgt werden und die Zeit haben, uns umeinander zu kümmern und mit der Natur versöhnt sind. Davon träumen Menschen seit langem, sie müssten es endlich einmal verwirklichen.

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