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Libanon: Warten auf den nächsten Krieg
Im Libanon schwindet die Hoffnung, dass der Waffenstillstand mit Israel hält
Die Stimmung in Baalbek ist freundlich, fast herzlich – und doch angespannt. Kurz nach Sonnenuntergang sind wir angekommen. »Zu Freunden, die eine Bar haben«, hat Amir gesagt. Dort sei die Shisha sehr zu empfehlen. Er lebt in Deutschland, verbringt aber – wie fast jedes Jahr – mehrere Monate zu Hause im Libanon.
Amir stammt aus dem Süden. Seine Eltern und einige Cousins leben noch dort, in der Nähe der Stadt Nabatäa (arab.: Nabatijeh). Sie liegt etwas nördlich des Grenzgebiets zu Israel, in dem bis Ende 2026 die Unifil-Blauhelme für Sicherheit sorgen sollen. Doch in den vergangenen Tagen und Wochen werden die Wälder um die Ortschaft regelmäßig bombardiert – ebenso wie die Regionen weiter im Süden.
Die libanesische Regierung bezeichnet diese Angriffe als Verletzung des Waffenstillstandsabkommens durch Israel. Doch außerhalb des Libanon interessiert das kaum jemanden. Die Welt blickt nach Gaza und fragt sich, ob der von US-Präsident Donald Trump initiierte Waffenstillstand halten wird und die Bedingungen dafür umgesetzt werden.
Tatsächlich hat die Situation in Gaza unmittelbare Auswirkungen auf den Libanon. Beide Konflikte, so scheint es, sind miteinander verwoben. Die schiitische Partei und Miliz Hisbollah gilt als enger Verbündeter der Palästinenser. Unmittelbar nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 begann sie zunächst mit symbolischem Beschuss israelischer Überwachungsanlagen entlang der Grenze. Im Laufe des vergangenen Jahres weitete sich der Konflikt dann zu einem Krieg aus.
Drohnen am Himmel
Israel rückte mit Bodentruppen vor – doch lösen konnte das den Konflikt nicht. Durch die Kämpfe wurden die Hisbollah und ihre Verbündeten, darunter die schiitische Amal-Partei, palästinensische Fraktionen und die Syrische Sozialistische Nationalpartei, geschwächt. »Es war ein harter Schlag«, sagt ein Verwandter von Amir. »Aber besiegt wurden wir nicht.« Noch immer kreisen über der Bekaa-Ebene, auf halbem Weg zwischen Beirut und Damaskus, regelmäßig israelische Drohnen. Mittlerweile ist unsere Gruppe auf rund zwanzig Personen angewachsen – alle wollen die Familie aus Deutschland treffen.
In Baalbek ist die Hisbollah tief in der Gesellschaft verwurzelt. Dabei war die Stadt vor hundert Jahren noch sunnitisch geprägt – bekannt vor allem für die mächtigen römischen Tempel des Merkur und des Bacchus. In der Antike war sie eines der wichtigsten Handelszentren der römischen Provinzen östlich des Mittelmeers.
Bei den jüngsten Kämpfen bombardierten israelische Streitkräfte auch Teile der Ruinen, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören. Israel erklärte, dort Munitionslager der Hisbollah getroffen zu haben, legte dafür jedoch keine Belege vor. Unesco-Stätten stehen unter besonderem Schutz; sie anzugreifen gilt nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen.
Einen Wandel gab es in Baalbek nach dem Ende der osmanischen Herrschaft 1918, als immer mehr Schiiten aus dem Umland in die Stadt zogen und sie heute maßgeblich prägen. Neben dem Südlibanon und den südlichen Vororten der Hauptstadt Beirut bildet die Bekaa-Ebene das dritte Machtzentrum der Hisbollah.
Im Straßenbild ist der Einfluss der schiitischen Milizen unübersehbar. Am Kreisverkehr auf unserem Weg hinauf in die Hügel um Baalbek hängen meterhohe Porträts des vor einem Jahr von Israel getöteten Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah – daneben das Gesicht des iranischen Revolutionsführers Ruhollah Khomeini.
Einfluss der Amal-Bewegung
Auch die zweite große schiitische Bewegung, die Amal-Fraktion, ist überall präsent. Entlang der Straßen flattern neben der gelben der Hisbollah auch ihre grünen Fahnen. Amal gilt als die ältere, bürgerlichere Kraft unter den Schiiten, verfügt aber – wie die Hisbollah – ebenfalls über einen bewaffneten Arm. Während des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 griff Amal mehrfach palästinensische Flüchtlingslager an.
Nach der Gründung der Hisbollah im Jahr 1985 war das Verhältnis zwischen beiden Gruppen zunächst gespannt. Doch die Hisbollah gewann rasch an Einfluss – auch, weil der Abzug der israelischen Armee und die Niederlage der pro-israelischen Südlibanesischen Miliz als ihr militärischer Erfolg galt. Spätestens nach dem 33-Tage-Krieg im Sommer 2006 galt sie als unangefochtene Macht im schiitischen Lager – und als dominierende Kraft im Land.
Und trotzdem hält sich nicht nur in Baalbek die Amal-Bewegung beharrlich. Ich frage die Männer am Tisch, warum das so ist. Amir übersetzt, und sofort stecken sie die Köpfe zusammen, diskutieren leise, gestikulieren.
Schließlich spricht einer von ihnen länger mit Amir, der seine Antwort überträgt: »Das ist durchaus so gewollt von der Hisbollah«, sagt er. Amal sei als politische Kraft besser organisiert, deshalb überlasse ihr die Hisbollah die politische Vertretung der Schiiten nach außen. »Die Stärke der Schiiten im Libanon ist, dass sie vereint sind. Wir sind die einzige Gruppe im Land, die mit einer Stimme spricht. Christen, Sunniten, Drusen – alle anderen sind gespalten.«
Diese Einheit der Schiiten verkörpert Nabih Berri, der Parlamentspräsident des Libanon. Im konfessionell austarierten Regierungssystem des Landes sind die wichtigsten Ämter fest verteilt: Das Amt des Staatspräsidenten steht einem Christen zu, das des Premierministers einem Sunniten – und das des Parlamentschefs den Schiiten.
Seit 1992 hat Berri, der Führer der Amal-Bewegung, dieses Amt inne. Als der inzwischen 87-Jährige zuletzt im Mai 2022 wiedergewählt wurde, fuhren Autokolonnen hupend durch die Straßen, grüne Amal-Fahnen flatterten aus den Fenstern. Auch mein damaliger Taxifahrer, ein Druse, hatte eine Fahne dabei. »Sonst kommen wir an der Kolonne nicht vorbei«, sagte er lachend. Im Handschuhfach lagen auch Fahnen anderer Parteien – für alle Fälle, wenn im Libanon politische Feierlaune ausbricht.
Die Wiederwahl Berris ist eigentlich keine Wahl. Die Hisbollah überlässt Amal traditionell den Posten. »Er spricht für uns, er vertritt alle Schiiten«, sagen die Männer in der Shisha-Bar. In einer Tageszeitung erschien einmal eine Karikatur: Gott steht neben Adam und Eva – und neben ihnen Nabih Berri. Adam fragt: »Wer ist der Mann neben Eva?« Gott antwortet: »Ich weiß es auch nicht. Aber er ist schon immer da.«
Derzeit richtet sich der politische Blick im Libanon besonders auf Nabih Berri – auch, weil die USA die Entwaffnung der Hisbollah fordern. Als das Kabinett im August beschloss, dem amerikanischen Druck nachzugeben, verließen alle schiitischen Minister aus Protest die Sitzung. »Es gibt niemanden außer der Hisbollah, der uns vor Israel verteidigt«, sagt Bassam, einer der Männer am Tisch. »Die Armee wird von der internationalen Gemeinschaft bewusst schwach gehalten. Sie bekommt zwar schöne, große Autos, aber kein schweres Gerät. Das ist alles nur Show.«
Wer soll die Hisbollah entwaffnen?
Mehr Erfolg hatte die Regierung bei der Entwaffnung palästinensischer Milizen, darunter auch der Fatah in den Flüchtlingslagern. Doch selbst dort stößt das von den USA geforderte Programm auf Widerstand. Inzwischen ist die Debatte über die Entwaffnung leiser geworden, auch, weil sich die amerikanische Aufmerksamkeit derzeit stärker auf Gaza richtet.
Doch genau deshalb könnte es im Libanon erneut zu Kämpfen kommen. Denn kaum einer in der Shisha-Bar glaubt, dass sich das israelische Kriegskabinett auflösen wird, sollte der Waffenstillstand in Gaza halten. Dann könnte die israelische Armee den Libanon und Syrien wieder verstärkt unter Beschuss nehmen.
Das passiert schon. Seit drei Wochen wird der Libanon täglich bombardiert. Fast jeden Tag gibt es Todesopfer durch gezielten Drohnenbeschuss. »Wir wollen keinen Krieg, aber wir sind bereit, die Opfer zu bringen«, sagt einer der Männer. Sein Neffe starb im Herbst 2024 durch eine israelische Rakete in Baalbek. Auch die Bar trägt die Spuren des Konflikts: »Sie war früher viel größer, aber den unteren Teil musste der Betreiber schließen«, erzählt Amir. »Israel hat ein kleines Mietshaus, das ihm gehört, zerstört. Jetzt kann er das Personal für die ganze Bar nicht mehr bezahlen und öffnet nur noch diesen Teil.«
Das zerstörte Haus liegt in Sichtweite hinter uns – nicht das einzige in der Stadt. Den ganzen Tag über fahren wir an eingestürzten Wohnhäusern vorbei, die Israel bombardiert hat.
In der Nacht kehren wir nach Beirut zurück. Als ich am nächsten Tag die Nachrichten einschalte, berichtet der Korrespondent des panarabischen TV-Nachrichtensenders »Al-Mayadeen« von weiteren Einschlägen in der Bekaa-Ebene, offenbar gibt es erneut Tote. Ich erinnere mich an die Worte des Vortags: »Es wird ein weiterer Krieg kommen, aber wir werden darauf vorbereitet sein.« Während Gaza auf Frieden hofft, warten die Menschen in Baalbek auf den nächsten Beschuss.
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