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Deutsche Atombombe: Ende Legende
»Hitlers Atombombe« – Mark Walker zeigt, dass deutsche Forscher gewillt waren, sie zu bauen
Gibt es den Krieg mit Russland, dessen recht baldiges Stattfinden Politiker und Medien als sicher vorhersagbare und hochrüstungsbegründende Tatsache beschreien, wird wenig übrig bleiben von dem, was sich Deutschland nennt. Warum sollten die Russen das Land schonen, das sich selbst als »logistische Drehscheibe« – welch blödes Wort – stilisiert, für den Fall, es kommt zu Kampfhandlungen an der »Ostflanke« – noch blöderes Wort – der Nato? Ein paar Atom- oder gar Wasserstoffbomben genügen, dann dreht sich nichts mehr in Barbarossa-Land. Froh mögen dann alle sein, für die das Inferno nur eine Sekundensache ist. Ob es einem nun passt oder nicht: Atommächte sollten nicht in existenzielle Bedrängnis gebracht werden. Ansonsten steht das Schicksal ganzer Länder und Kontinente, ja des Planeten auf dem Spiel.
Die Grundlagen für diese perverse Konstellation legten Wissenschaftler. Und es waren nicht Otto Hahn, Fritz Straßmann und Lise Meitner, welche 1938 die Kernspaltung entdeckten, sondern jene, die bald darauf auch in Deutschland darüber nachdachten, wie das physikalische Phänomen zum Führen von Kriegen genutzt werden kann. Die prominentesten und wohl auch wichtigsten unter ihnen hießen Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker.
Beiden wurde später bewusst, dass ihre Hände am Deckel der Pandorabüchse gerüttelt hatten, sie versuchten aber, es zu verschleiern. Davon handelt das Buch »Hitlers Atombombe« von Mark Walker. Höchst genau, manchmal fast ehrpusselig detailversessen zeichnet er die Geschichte der Kernforschung im »Dritten Reich« nach. Seine Leser brauchen Geduld, aber die lohnt sich.
Nach und nach schält Walker die wichtigsten Tatsachen dieser viel umstrittenen Geschichte heraus, die da sind: Die deutschen Physiker waren auf dem Weg, einen »Uranbrenner«, also einen Kernreaktor, zu bauen. Sie wussten, für eine stabile Kettenreaktion war ein Moderatorstoff nötig, und sie setzten dabei auf schweres Wasser aus dem von Nazideutschland besetzten Norwegen. Sie wussten, wie eine Atombombe funktioniert und dass sie dazu Uran 235 brauchten, welches per Isotopentrennung aus natürlichem Uran gewinnbar ist. Und ihnen war klar, bei der Kernspaltung im »Uranbrenner« würde mit dem Element 94 (später Plutonium genannt) ein weiterer spaltbarer, bombengeeigneter Stoff entstehen. Auch Berechnungen der für eine Uranbombe nötigen kritischen Masse gab es.
Wenn die Nazis keine Atombomben in die Hände bekamen, dann weil nach dem Überfall auf die Sowjetunion dem Hitler-Reich recht bald die Ressourcen fehlten, von der Laborphase in das Stadium großindustrieller Fertigung, insbesondere bei der Isotopentrennung, überzugehen. Genau diesen Schritt aber unternahmen die USA mit einer enormen Konzentration der finanziellen und wissenschaftlichen Kapazitäten beim »Manhattan Project«, bei dem sie alle seinerzeit beschreitbaren Wege zum Ziel parallel probierten.
Heisenberg und Weizsäcker indes setzten nach Kriegsende die Legende in Umlauf, sie hätten die Bombe gar nicht bauen wollen, ja international einen Konsens in der Wissenschaft angestrebt, die Finger davon zu lassen. Insbesondere Robert Jungks 1956 erschienenes Buch »Heller als tausend Sonnen« über die Geschichte der Atomforschung transportierte diese Erzählung, in deren Mittelpunkt der Besuch Heisenbergs und Weizsäckers bei ihrem alten Kollegen Niels Bohr, dem »Vater der Atomphysik«, im besetzten Dänemark 1941 steht. Angeblich hätten die beiden Deutschen Bohr bitten wollen, ihnen zu helfen, die US-amerikanischen und britischen Kollegen zu kontaktieren und so den Bau von Atomwaffen weltweit zu verhindern. Doch dazu sei es nicht gekommen. Jungk schreibt: »Es erscheint paradox, daß die in einer säbelrasselnden Diktatur lebenden deutschen Kernphysiker, der Stimme ihres Gewissens folgend, den Bau von Atombomben verhindern wollten, während ihre Berufskollegen in den Demokratien, die keinen Zwang zu befürchten hatten, mit ganz wenigen Ausnahmen sich mit aller Energie für die neue Waffe einsetzten.«
Mark Walker löst dieses scheinbare Paradoxon auf, indem er detailgenau eruiert, was im Herbst 1941 in Kopenhagen geschah. Und es bleiben wenig Zweifel, dass Heisenberg und Weizsäcker als Vertreter der deutschen Besatzer versuchten, die zurückhaltenden dänischen Physiker zur Kollaboration zu überreden. Ihr Argument, an das sie zu diesem Zeitpunkt lange vor Stalingrad selber glaubten, lautete, Deutschland werde den Krieg sicher gewinnen. Jedes Verweigern einer Zusammenarbeit würde nur Unheil über Dänemark bringen.
Niels Bohr hielt später in einem von ihm, dem höflichen Dänen, allerdings nie abgeschickten Brief an Heisenberg fest, er erinnere sich »ganz deutlich … an den Eindruck, den es auf mich machte, als Du mir zu Beginn unserer Unterhaltung unvermittelt gesagt hast, daß Du sicher seist, daß der Krieg, wenn er nur lange genug dauerte, mit Atomwaffen entschieden würde. Ich habe darauf überhaupt nicht reagiert, aber da Du darin vielleicht einen Ausdruck des Zweifels sahst, sagtest Du, daß Du Dich in den letzten Jahren fast ausschließlich dieser Frage gewidmet hättest.« Niels Bohr floh 1943 zuerst nach Schweden und arbeitete dann am Bau der US-Atombomben mit. Der erfolgte ja lange unter der Annahme, die Deutschen könnten den Amerikanern zuvorkommen.
Walkers Darstellung zerstört den Glorienschein einer gewissen Widerständigkeit Heisenbergs und Weizsäckers gegenüber dem Nazi-Regime. Sie zeigt zudem, wie gut sich die beiden trotz einiger ideologischer Angriffe auf die moderne theoretische Physik in Hitlers Deutschland aufgehoben fühlten. So weist Walker auf Heisenbergs Schnittmengen mit dem Antikommunismus und Rassismus der Nazis hin, wenn er schildert, was der Physiker nach der Kriegswende von Stalingrad bei Vorträgen im okkupierten Holland und der freien Schweiz sagte: Nur Deutschland stehe zwischen Russland und der europäischen Zivilisation. Weizsäcker wiederum äußerte gegenüber dem von Walker zitierten Robert Jungk »eine gewisse Sympathie oder sagen wir mal Verständnis für den Nationalsozialismus in seinen Anfängen«, weil ihm »hier ein Durchbruch tieferer Kräfte am Werk zu sein schien«.
Sparsam zieht Walker die biografischen und familiären Hintergründe der beiden Physik-Promis heran, die für ihr Verhalten gegenüber dem Nazi-Staat zu beachten sind. Bei Heisenberg ist es seine antikommunistische Lebenskonstante. Schon als Gymnasiast schloss er sich 1919 dem Freikorps Lützow an, einer protofaschistischen, militärisch organisierten Mörderbande, die sich auf viehische Art an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligte. Weizsäcker seinerseits wuchs mit einem Vater auf, der 1919 dem Liebknecht-Mörder Horst von Pflugk-Harttung, einem Marineoffizierskumpan, zur Flucht verholfen hatte und der dann als Staatssekretär im Auswärtigen Amt zu den Verantwortlichen für die Verbrechen des Hitler-Staates gehörte.
Als Heisenberg und Weizsäcker zusammen mit anderen internierten deutschen Kernphysikern im britischen Farm Hall 1945 von den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki hörten, klappten ihnen die Kinnladen herunter. Nicht weil sie begriffen, gegen wen sich diese unerhörten Taten als Drohung tatsächlich richteten, nämlich die Sowjetunion als bisheriger Alliierter gegen Nazideutschland. Sie hatten einfach nicht damit gerechnet, dass die US-Amerikaner schafften, was sie selbst eigentlich wollten.
1956 wandten sie sich im Manifest der »Göttinger 18« gegen Pläne zur atomaren Bewaffnung Westdeutschlands. Walker meint, darin steckte auch der Versuch eigener Exkulpation. Sicherlich, doch einiger Ehren wert war es trotzdem, dass sich eine Phalanx führender Wissenschaftler gegen das Bestreben nach »Kriegstüchtigkeit« wandte – und gegen ein Herunterspielen des Zerstörungspotenzials von Kernwaffen: »Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.« Das gilt auch heute.
Mark Walker: Hitlers Atombombe. Geschichte, Legende und das Erbe von Nationalsozialismus und Hiroshima. A. d. amerik. Engl. v. Thorsten Schmidt. Wallstein, 476 S., geb., 39 €.
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