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Straßenbau: Trennung zwischen Israelis und Palästinensern
Wie Israel die Trennung zwischen Israelis und Palästinensern im Westjordanland durch den Straßenbau forciert
Die Maschinen stehen still an der Straße 60 zwischen Bethlehem und Hebron. Es ist Samstag. Wo früher eine zweispurige Verbindung verlief, entstehen nun vier Spuren. Am Sonntag werden die Bulldozer ihre Arbeit wieder aufnehmen; eigentlich haben sie nie aufgehört – nicht einmal während der Offensive im Gazastreifen.
»Wer dachte, Israel sei zu beschäftigt, hat sich getäuscht«, sagt Muna, eine palästinensische Führerin aus dem Westjordanland. Sie zeigt auf die bereits aufgestellten Lichtmasten und die Tunnel. Künftig sollen palästinensische Autos mit den grünen Kennzeichen unterirdisch fahren, damit sie nicht an den Zufahrten zu den israelischen Siedlungen vorbeikommen, die ausschließlich Siedlern offenstehen.
Straßen für die Trennung
»Sie verbreitern die Straßen, um parallele Fahrbahnen zu schaffen: eine für Israelis, eine für Palästinenser. Dazwischen soll eine Mauer entstehen«, erklärt Muna. »Sie wollen uns nicht einmal sehen. Sie wollen nicht, dass ein palästinensisches Auto an einer Ampel neben dem eines Siedlers wartet. Und dort, wo sich die getrennten Straßen unvermeidlich kreuzen, bauen sie einen Tunnel. Keine Brücke – Palästinenser müssen unten bleiben, keine Bedrohung darstellen und unsichtbar sein.«
Einen Tunnel gibt es hier bereits. Er verbindet das palästinensische Dorf Beit Dschala mit Nahalin und Husam. Am Ende der Unterführung, die vom Regen der vergangenen Tage überflutet ist, sichert ein gelbes Tor der israelischen Armee die vollständige Kontrolle: Ein einziges Schließen genügt, um eine der Ortschaften von den anderen abzuschneiden.
Für die Erweiterung der Straße 60 hat Israel palästinensisches Land beschlagnahmt. Auf dem Abschnitt südlich der Siedlung Efrat hat das Dorf Al-Khader seine landwirtschaftlichen Flächen verloren; sie wurden eingeebnet. Jenseits der Fahrbahn erinnert nur noch wenig an das, was dort einst war: Terrassen mit Olivenhainen, Weinberge und Zitrusplantagen, die nun vollständig von ihren Besitzern getrennt und damit unbrauchbar geworden sind.
Etwas weiter südlich, nahe der Siedlung Gusch Etzion, zeigt sich das gleiche Bild: Baufahrzeuge, Erdarbeiten, eine doppelte Fahrbahn, die die Trennung sichtbar macht. Im Norden ist es nicht anders. Am südlichen Eingang von Ramallah ist eine Unterführung entstanden, durch die Palästinenser die Stadt erreichen – während die Siedler oben über die Fahrbahn hinwegfahren.
Noch weiter nördlich, in Nablus: Der Checkpoint von Huwwara, einer der gefürchtetsten wegen der Gewalt der dort stationierten Soldaten, gleicht inzwischen einer Geisterzone. Die neue Straße für palästinensischen Verkehr wurde auf Erdhaufen errichtet, die israelische Bulldozer über Monate aufgeschüttet hatten.
An vielen Orten wird derzeit gebaut. Das Ziel ist überall dasselbe: Die Straßen sollen die israelische Kontrolle festigen und die demografischen wie territorialen Realitäten nachhaltig verändern. Das gilt auch für die geplante »Straße der Souveränität«. Sie soll den palästinensischen Verkehr um die Siedlung Maale Adumim herumleiten – das Herzstück des umstrittenen Siedlungsprojekts E1 mit rund 3400 geplanten Wohneinheiten. Auch hier sollen getrennte Verkehrswege entstehen: Die »Straße der Souveränität« wird Palästinenser daran hindern, direkt an Maale Adumim vorbeizufahren, während die Schnellstraße die Siedler in wenigen Minuten ins Zentrum Jerusalems bringt.
Die israelische Regierung hält sich mit Details zurück und vermeidet damit jede mögliche – wenn auch unwahrscheinliche – öffentliche Kontrolle. Sicher ist nur das hohe Budget, das in die Umgestaltung des Straßennetzes im Westjordanland fließt: Im Juli wurden 274,6 Millionen Dollar für Infrastrukturprojekte zugunsten der Siedlungen bewilligt. Dass diese Entscheidung nur wenige Stunden nach der Knesset-Abstimmung über die Ausweitung der israelischen Souveränität auf das besetzte Westjordanland fiel, ist kein Zufall.
Der Text wurde »nd« zur Verfügung gestellt von der linken italienischen Tageszeitung »Il Manifesto«, mit der wir kooperieren.
Die Verkehrsministerin Miri Regev und Finanzminister Bezalel Smotrich hatten um die Zustimmung des Finanzausschusses gebeten – mit dem Ziel, die Landverbindungen zwischen den Siedlungen sowie zwischen den Siedlungen und Israel auszubauen. Regev fasste das Vorhaben in vier Worten zusammen: »praktische Schritte zur Annexion«. Smotrich ergänzte: »So wird echte Souveränität verwirklicht – mit Fakten vor Ort, mit Investitionen in die Siedlungen und mit der Ansiedlung von einer Million neuer Siedler. Die Fantasie eines terroristischen palästinensischen Staates wird zunichtegemacht.«
Bereits im vergangenen Jahr hatte die Regierung von Benjamin Netanjahu die Straßeninfrastruktur mit einer noch größeren Finanzspritze ausgestattet: 838 Millionen Dollar. Damit wurden während des Gazakriegs in nur zwölf Monaten 116,4 Kilometer Asphalt für insgesamt 139 neue, illegal errichtete Straßen gebaut.
Diese Zahlen hat vor einigen Monaten die israelische Organisation Peace Now veröffentlicht. Sie betonte dabei: Mindestens zwei Drittel – rund 75 Kilometer – der neuen Straßen wurden auf beschlagnahmtem palästinensischem Privatland gebaut; sieben Kilometer liegen in Gebiet B, das zumindest theoretisch unter ziviler Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde steht; etwa 40 Kilometer dienen ausschließlich den Siedlungen. Es handelt sich um Umgehungsstraßen, die für Palästinenser vollständig gesperrt sind.
Neuordnung des Westjordanlands
»Das Kolonialprojekt ist ein Dreieck – jede Seite stabilisiert die gesamte Struktur«, erklärt der palästinensische Analyst Suhail Khalilieh. »Es geht nicht nur um den Bau neuer Wohneinheiten. Israel hat von Anfang an verstanden, dass es – um Bürger in die Siedlungen zu bringen – diese attraktiv machen muss. Deshalb hat es in die beiden anderen Seiten investiert: in Industriegebiete – inzwischen sind es 23 – und in Straßen, ein effizientes Netz, das schnelle Bewegungen ermöglicht und die palästinensischen Städte umgeht.« Seit der ersten Intifada, sagt Khalilieh, habe Israel massiv in die Infrastruktur investiert. Doch heute sei die Qualität eine andere. »Israel verfolgt ein neues Ziel: die Schaffung zweier vollständig getrennter Straßensysteme für Palästinenser und Israelis.«
Es ist eine neue Ära, die nicht bei der Gründung oder Erweiterung von Siedlungen Halt macht, sondern das gesamte Westjordanland neu ordnet. Geplant sei, erläutert Khalilieh, ein westlicher Streifen entlang der israelischen Grenze, in dem die größten und bevölkerungsreichsten Siedlungen entstehen – 80 Prozent der Gesamtzahl. Diese Gebiete sollen an Israel angegliedert werden.
Auch ein östlicher Streifen, der das Jordantal umfasst, steht bereits zu etwa 95 Prozent unter israelischer Kontrolle. Lediglich ein mittlerer Streifen mit kleineren Siedlungen soll künftig von Palästinensern bewohnt werden, sagt Khalilieh – einer palästinensischen Bevölkerung, deren Kontrolle Tel Aviv zunehmend den Siedlern selbst überlässt. »Itamar Ben Gvir versorgt als Sicherheitsminister die Milizen der Siedler mit Hunderttausenden von Waffen, und Smotrich arbeitet daran, die Verwaltung der besetzten Gebiete an den Siedlerrat zu übertragen.«
Die Straßenbaupolitik ist eng mit der Militäroffensive im Westjordanland verknüpft. Unmittelbar nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 begannen Soldaten damit, die Zufahrtswege zu palästinensischen Gemeinden zu blockieren. In den ersten Wochen geschah dies noch improvisiert – mit Betonblöcken und Erdhügeln.
Dann tauchten die Tore auf: zuerst Dutzende, später Hunderte, innerhalb von Dörfern und Kleinstädten sowie entlang ihrer Grenzen. Ein einziger Soldat reiche aus, um eine ganze Gemeinde zu kontrollieren, erklärt Muna. »Die Armee schließt die Tore, die Siedler greifen an, und die Palästinenser aus benachbarten Städten können den Angegriffenen nicht zu Hilfe kommen.«
Die Farbe der Tore verrät ihren Verwendungszweck. Die orange gestrichenen Gitter sind seit Monaten geschlossen. Sie stehen außerhalb der Dörfer, entlang der Umgehungsstraßen. Die gelben Tore, die zwischen Ortschaften installiert wurden, werden ohne Vorwarnung und auf militärischen Befehl hin geschlossen – und später wieder geöffnet.
Nach Angaben des UN-Nothilfebüros OCHA, das die humanitären Angelegenheiten der Vereinten Nationen koordiniert, gibt es im Westjordanland derzeit 849 Straßensperren, darunter 288 Tore. Andere Quellen sprechen von bis zu 1200.
Der Alltag – Studium, Arbeit, medizinische Versorgung – hängt vollständig von den Straßenblockaden und damit vom Willen der Besatzungsmacht ab. In Telegram- und Whatsapp-Gruppen halten Palästinenser einander auf dem Laufenden: ob man durchkommt oder nicht, ob eine Gemeinde erreichbar ist oder isoliert bleibt.
»Das Ausmaß der Straßenbauarbeiten, die Israel derzeit vorantreibt, schafft irreversible Tatsachen«, sagt Khalilieh. Die Last der Besatzung sei erneut gewachsen. Seit Langem herrsche ein Apartheidsystem, doch nun werde der Weg zur Annexion geebnet.
Dieser Text ist am 16. November in unserem italienischen Partnermedium »Il Manifesto« erschienen. Der Beitrag wurde nachbearbeitet und gekürzt.
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