Kessler-Zwillinge: Verbunden auch auf dem letzten Weg

Wenn Prominente per assistiertem Suizid aus dem Leben gehen, beflügelt das Debatten über die Neu­regelung selbst­bestimm­ten Sterbens

Die Kessler-Zwillinge wollten zum Lebens- und Karriereende alles regeln. Hier bereiteten sie die Versteigerung ihrer Bühnenoutfits vor – zugunsten von Betroffenen der Flutkatastrophe im Ahrtal.
Die Kessler-Zwillinge wollten zum Lebens- und Karriereende alles regeln. Hier bereiteten sie die Versteigerung ihrer Bühnenoutfits vor – zugunsten von Betroffenen der Flutkatastrophe im Ahrtal.

Prominente boten schon immer Projektionsfläche für gesellschaftlich oder auch persönlich nicht ausreichend behandelte Konflikte. Besonders groß wird die Möglichkeit, wenn die Prominenten auch noch Zwillingsschwestern sind, die große Teile ihres beruflichen und öffentlichen Lebens auf dieser Gemeinschaft aufgebaut haben – und zudem dann, wenn das gesetzte Thema in einem Grenzbereich liegt. Hier ist es die Grenze zwischen Leben und Tod.

Nun kann den lange so lebensfrohen Schwestern zugestanden werden, dass sie auch nach fast 90 Lebensjahren wissen, was sie tun. Daran ändert nichts, dass nur eine von beiden nach einem Schlaganfall, mit Herzproblemen und Depression schwerer krank war. Die Verbundenheit der beiden Frauen zueinander reichte bis zur letzten Entscheidung, sie hatten sich für einen gemeinsamen Freitod entschieden.

Darüber hinaus fühlten sie sich auch anderen verpflichtet, wie aus ihrem Testament wie auch aus dessen Veränderung hervorgeht. Die kinderlosen Künstlerinnen wollten ihr Vermögen zunächst vollständig der Organisation Ärzte ohne Grenzen vermachen, erweiterten das Vermächtnis aber noch auf vier andere Empfänger aus dem sozialen bzw. medizinischen Bereich. Zudem verfügten sie, dass ihre Beerdigung ohne öffentliche Zeremonien oder Gedenkfeiern erfolgen solle.

Suizidassistenz wiederum ist seit 2020 in Deutschland unter bestimmten, eng gefassten Möglichkeiten legal. Dem zugrunde liegt ein Verfassungsgerichtsurteil, wonach es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt. Dieses schließt auch die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und von Dritten Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Zurzeit bieten vier Organisationen die Begleitung an, darunter auch die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Diese hat 2024 623 Anträge vermittelt, die zu einer Freitodbegleitung führten. 2021, im ersten Jahr nachdem die neuen Bedingungen in Kraft getreten waren, gab es 120 Freitodvermittlungen. Die Zahl stieg seitdem also jährlich stetig an. Als Vergleichsgröße kann die Zahl der jährlichen Suizide herangezogen werden: Das sind etwa 10 500 Fälle. Gesehen werden sollten auch die etwa 100 000 Suizidversuche pro Jahr. Insgesamt sterben in jedem Jahr in Deutschland 1,1 Million Menschen. Unter den 623 vermittelten Fällen der DGHS waren 38 Doppelbegleitungen.

Auf nd-Anfrage heißt es vonseiten der DGHS, dass die Anträge für letztere in der Regel von Ehepaaren kommen und dass es sich um langjährige Mitglieder handelt. Die Kessler-Zwillinge waren seit 2023 Mitglied der DGHS. Bei den Doppelbegleitungen sei es wichtig, dass mit jedem einzeln über die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung und die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit gesprochen wird.

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»Wenn einer der beiden nicht mehr urteils- und entscheidungsfähig war, wurden die Begleitungen abgesagt«, so Wega Wagner, DGHS-Pressesprecherin. Dann wollte teils nur noch eine Person gehen, oder die geplante Suizidhilfe habe gar nicht stattgefunden. Den Kessler-Zwillingen war wohl auch bewusst, dass zu wenige Menschen in Deutschland über die Möglichkeit der legalen Suizidassistenz informiert sind. Deshalb erlaubten sie der DGHS explizit, über ihren Freitod zu sprechen, was sonst aus Datenschutzgründen nicht geschehen wäre.

Eine Neuregelung des Themas Suizidassistenz im Bundestag ist noch nicht absehbar, wird aber angestrebt. So bietet das Lebensende der Schwestern willkommenen Anlass, alle möglichen Vorbehalte gegen eine solche Entscheidung noch einmal öffentlich durchzuspielen. Einen beträchtlichen Anteil an der Debatte haben erwartbar Argumente, nach denen der Mensch nicht in göttlich oder wahlweise »natürlich« vorgegebene Entscheidungen eingreifen darf.

An Vehemenz ähnlich stark sind die Verfechter einer, wenn auch wünschenswerten, aber nicht existierenden, pflegerischen und medizinischen Idealwelt, praktisch jenseits bestehender Kapitalverhältnisse. Dass Palliativpflege und Suizidprävention weiter verbessert werden müssen, ist unbestritten. Aber man kann auch das eine tun, ohne das andere zu lassen, das heißt, ohne eine fair regulierte Möglichkeit eines selbst gewählten Todes offenzulassen. Die Alternative wäre wohl sonst unter anderem, dass mehr Menschen ihr Ende mit einem Sprung vom Hochhaus, von einer Brücke oder vor einen Zug herbeiführen.

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