Gegen die in Gesetz gegossene Zukunftsvision

Präsident Noboa regt an, das Verfassungsgericht abzuschaffen. Gespräch mit Alberto Acosta, der Präsident der verfas­sungs­geben­den Versammlung war

  • Interview: Nora Sandoval
  • Lesedauer: 4 Min.
Während einer Demo zur Unterstützung einer indigenen Organisation am 30. September brennt eine Barrikade mit einem Foto von Noboa.
Während einer Demo zur Unterstützung einer indigenen Organisation am 30. September brennt eine Barrikade mit einem Foto von Noboa.

Der Präsident von Ecuador, Daniel Notboa, will die Verfassung abschaffen, die Sie 2008 als Präsident der verfassungsgebenden Versammlung im Rahmen eines sehr breiten demokratischen Prozesses ins Leben gerufen haben. Was stört ihn denn an der Verfassung?

Präsident Noboa und die ecuadorianischen Eliten fühlen sich durch die vielen Rechte und Garantien der Verfassung von 2008 eingeschränkt. Das sagen sie schon seit deren Verabschiedung per Referendum im September 2008. Es gibt viele Elemente, mit denen sie nicht einverstanden sind, aber vor allem befürchten sie, dass diese Verfassung, die ein auf sozialer und ökologischer Gerechtigkeit basierendes Zusammenleben vorsieht, Realität wird. Es handelt sich nicht um eine Verfassung, die wie frühere einfach nur einen Status quo festschreibt, sondern sie beinhaltet eine Zukunftsvision.

Was sind Ihres Erachtens die wichtigsten Errungenschaften dieser Verfassung?

Im Rahmen dieser Vision einer wünschenswerten Zukunft und der Einführung einer Reihe von Instrumenten, um diese Zukunft auf demokratischem Weg zu erreichen, gibt es da so einiges: den Aufbau eines plurinationalen Staates, der neben individuellen auch eine Reihe kollektiver Rechte umfasst, was vor allem für Indigene entscheidend ist; eine wesentlich effektivere demokratische Beteiligung an Entscheidungsprozessen; und natürlich die weltweit bahnbrechenden Rechte der Natur, die bereits in rund 40 Ländern Gestalt annehmen, um nur einige wichtige Punkte zu nennen.

Interview
Alberto Acosta


Alberto Acosta, geboren 1948, war 2007/08 Präsident der verfas­sungs­geben­den Versammlung Ecuadors. Der Wirt­schafts­wissen­schaftler ebnete der neuen ecuadorianischen Verfassung den Weg,
die für das Land ein neues Entwick­lungs­­­modell auf Grundlage traditionell-indigener Prinzipien wie auch westlich-moderner Elemente aufstellt.

Weiß man schon, was für eine Art von Verfassung Daniel Noboa an ihre Stelle setzen will?

Der Präsident strebt eine Art Blankoscheck an. Er kündigte an, erst nach einem Sieg bei der Volksabstimmung vom 16. November den Inhalt seines Verfassungsentwurfs bekanntzugeben. Es gibt jedoch bereits mehrere Hinweise auf Einschränkungen wichtiger Rechte, beispielsweise würden öffentliche Universitäten nicht mehr kostenlos sein, die Rechte der Natur sollen abgeschafft werden, und US-Militärstützpunkte wieder erlaubt werden, sogar auf den Galapagosinseln.

Wurde die Verfassung von 2008 denn seit ihrer Verabschiedung von den jeweiligen Regierungen respektiert? Wie wichtig war die Rolle des Verfassungsgerichts?

Leider nein. Die Verfassung von 2008 stellt nicht nur eine Bedrohung für die Privilegien der Machtgruppen dar, sondern auch eine Zwangsjacke für autoritär Regierende. In diesem Zusammenhang hat das Verfassungsgericht mit Höhen und Tiefen eine wichtige Rolle gespielt. Zum Beispiel hat es ein paar vielbeachtete Grundsatzurteile gefällt, wie zum Beispiel im Fall Los Cedros im Dezember 2021, als das Gericht eine Bergbaukonzession stoppte, weil die dafür vom Umweltministerium bereits ausgestellte Erlaubnis gegen die Rechte der Natur, das Recht auf eine gesunde Umwelt, das Recht auf Wasser und auf eine Vorab-Befragung verstieß.

Es gab in diesem Jahr vermehrt Spannungen zwischen dem Verfassungsgericht und der Exekutive. Was für Pläne hat Noboa, um diesen institutionellen Gegenspieler seiner Strategie kaltzustellen?

Noboa schlägt vor, das Verfassungsgericht abzuschaffen und es in eine einfache Kammer der nationalen Justiz umzuwandeln. Tatsächlich ist diese wichtige Institution des Rechtsstaats die einzige, die er noch unter seine Kontrolle bringen muss, um seine Macht zu vervollständigen.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass die Menschen in Ecuador Noboas Kurs folgen, und was müsste geschehen, damit die Errungenschaften von 2008 erhalten bleiben?

Die Volksabstimmung findet auf einem geneigten Spielfeld statt, und zwar zugunsten des Präsidenten. Sowohl die großen Medien als auch der Nationale Wahlrat, der eigentlich neutral sein müsste, arbeiten zu seinen Gunsten. Aber dennoch sind viele gesellschaftliche Gruppen sehr aktiv, um diese Lawine zu stoppen, die im Einklang mit den Winden steht, die weltweit von rechts außen her wehen. Und sollte sich die Oligarchie im November durchsetzen, wird dieser Widerstand weitergeführt werden, dann eben gegen den Abbau von Rechten und Garantien im Kontext der verfassungsgebenden Versammlung von Noboa. Als letzter Schritt müsste so eine neue Verfassung von Noboa dann in einem weiteren Referendum angenommen oder abgelehnt werden. Ich bin zuversichtlich, dass die Verfassung von 2008 aufgrund des Widerstands der Bevölkerung überleben wird.

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.