Schwermut für alle mit Radiohead

Radiohead spielten das erste von vier Berlin-Konzerten: Eine triumphale Best-of-Show der letzten 30 Jahre

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 4 Min.
Dem stachelhaarigen Sänger fehlen die stachligen Haare.
Dem stachelhaarigen Sänger fehlen die stachligen Haare.

Draußen im Nieselregen wird es deutlich: Dieser Montagabend gehört nicht bloß den Generationen X und Y. In der Schlange: Gruppen junger Männer mit Wide-Leg-Hosen und noch jüngere Frauen mit türkis gefärbten Haaren. Mindestens die Hälfte des Publikums in der Arena dürfte die Zeiten, in denen ein Twentysomething mit blond gefärbten Stachelhaaren schwer leidend von einer »Karma Police« sang, die er den Kapitalisten an den Hals wünscht, nur von Youtube kennen. Oder, wahrscheinlicher noch, von Tiktok.

Dem Andrang hat der Generationen-Gap keinen Abbruch getan. Je 17 000 Tickets für die vier Berliner Konzerte gingen in den Verkauf, ein Vielfaches hätte die Band des einst Stachelhaarigen absetzen können. »Suche Ticket«-Pappen? Kaum zu sehen im Friedrichshainer Regen – es ist ja zwecklos.

Alle hier zwischen 16 und 60 sind gekommen, um eine britische Band zu sehen, die fast zehn Jahre nicht in Deutschland gespielt hat; eine Band, die mit Outsider-Hymnen und der Zeile »I don’t belong here« bekannt wurde; eine Band, die kurz dem Britpop zugerechnet wurde, um etwa ab dem Jahr 2000 den Indie-Rock mit elektronischen Mitteln neu zu erfinden – das darf man durchaus so wichtigtuerisch schreiben.

Schließlich geht es um Radiohead. Die fünf hatten sich 2024 nach langer Zeit wieder im Proberaum eingefunden, »just for the hell of it«. Und »nur so« sind sie dann auch auf Tour gegangen, je vier Konzerte in fünf europäischen Städten, ohne neue Songs. Und jetzt laufen sie also quer durch die Menge in den abgedunkelten Raum ein, genau in die Mitte der Halle; hinauf auf die Bühne, die von einem leuchtenden LED-Ring eingefasst wird wie der Feuerkreis bei einer keltischen Zeremonie.

Der Beginn mutet eher sperrig an. Das 30 Jahre alte »Planet Telex«? Nicht gerade ein Gassenhauer. Dann: »2+2=5«. Der eröffnet auch die neue Radiohead-Platte mit Liveaufnahmen aus den Nullerjahren – kein Zufall, liegt der Schwerpunkt des Zwei-Stunden-Sets doch auf der Zeit von 1997 bis 2007. »You have not been paying attention«, bellt Sänger Thom Yorke, die beiden Schlagzeuger (Chris Vatalaro ist als Gast und sechster Mann dabei) dreschen los – im selben Moment fahren die halb transparenten LED-Wände hoch, die die Band bis dahin verdeckt haben. Die Arena schreit auf vor Verzückung.

Das war der erste von mehreren Gänsehaut-Momenten. Gleich im ersten Konzertdrittel spielt die Band zwei Songs ihres brillanten Albums »OK Computer«, darunter »No Surprises«. Nicht hingerissen zu sein von dem Glockenspiel-Intro, dieser todtraurigen Tonfolge, dem eindringlichen Gesang Yorkes mit geschlossenen Augen – ist das menschenmöglich? Selbst der Rezensent ist versucht, seine Handy-Taschenlampe im Geiste alter Festival-Feuerzeugschwenk-Zeiten in die Höhe zu recken. Yorke spielt den letzten Ton zu tosendem Applaus, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Dass die leiseren Radiohead-Werke bei einer solchen Show eher auf laut gebürstet werden, dass die schlichten Tour-Shirts 50 Euro kosten, dass der Sound in der Mehrzweckarena, der ein »Unter« im Name besser stünde, nicht immer sauber klingt – all das interessiert hier niemanden wirklich.

Es ist eine triumphale Rückkehr der fünf alten Freunde, die stets alle Songwriting-Tantiemen teilen. Zu Recht lassen sie sich für ihr phänomenales, neun Studioalben umfassendes Werk feiern, mit vielen Verbeugungen und auf Herzen gelegten Händen. Radiohead sind auf der kreisrunden Bühne kabellos unterwegs, davon profitiert vor allem Frontmann Thom Yorke. In weiten, Skater-artigen Klamotten hüpft er über die Bühne wie Rumpelstilzchen, schwingt sein Tamburin und springt gerade noch rechtzeitig ans Piano, um schwere Akkorde zu den sirrenden E-Gitarren beizusteuern. Die bearbeiten der breitbeinige, bestens gelaunte Ed O’Brien und natürlich Johnny Greenwood. Er ist der zweite Hingucker-Typ der Band, wegen seiner Jungenhaftigkeit von der Londoner »Times« kürzlich als »Dorian Gray of Alt-Rock« bezeichnet und unendlich biegsam, wenn er seinen Oberkörper nach vorne wirft.

Greenwood ist maßgeblich verantwortlich für Radioheads hervorragenden Ruf als sensible Experimentalband zwischen Rock und Electronica. Bei »Everything in its Right Place«, getaucht in Rhodes-Piano-Sound, kniet er gitarrenlos am Boden und malträtiert seine Effektgeräte. Der Sieben-Song-Zugabenblock liefert dann alle Heuler, die noch fehlten: »Fake Plastic Trees«, »Paranoid Android« – und ganz zum Schluss: »Karma Police«.

Besser kann man ein Konzert in einer wenig kunstsinnigen Umgebung nicht spielen; schöner könnte das Dekor nicht sein. Die riesigen beweglichen LED-Screens zeigen mal verschwommene, mal kontrastreiche Großaufnahmen der Protagonisten, flackern wie angeschlagene Testbilder, halluzinieren wie auf LSD. Eine angemessen anregende, verstörende Begleitung.

Ob blaue oder graue Haare – an diesem Montagabend war für alle etwas dabei. Radiohead live: Das ist zeitlos schwermütige, zeitlos schöne Musik.

Weitere – ausverkaufte – Konzerte am 11. und 12.12. in der Uber-Arena, Berlin.

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