Journalismus in Mexiko: Die Kraft der Erinnerung

Vania Pigeonutt hat als Journalistin gearbeitet – unter riskanten Bedingungen. Heute engagiert sie sich für das Erinnern an ihre ermordeten Kollegen

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 6 Min.
Vania Pigeonutt errichtet am Tag der Toten einen Altar für ermordete Journalist*innen in Berlin. Erinnerung ist ihre tägliche Mission.
Vania Pigeonutt errichtet am Tag der Toten einen Altar für ermordete Journalist*innen in Berlin. Erinnerung ist ihre tägliche Mission.

Den bunt lasierten Totenkopf aus Ton hat sie gerade erst gekauft. »Ich will hier heute einen kleinen Altar zu Ehren der ermordeten Kollegen bei unserer Veranstaltung aufbauen. Heute ist schließlich der Tag der Toten – ein Tag der Erinnerung«, sagt die quirlige 37-Jährige mit einem fröhlichen Lächeln und lässt ihre großen dunklen Pupillen funkeln.

Vania Pigeonutt sitzt im »Taz«-Café in der Friedrichstraße in Berlin und wartet auf mehrere Kolleg*innen aus Lateinamerika, die bei einer Veranstaltung im November über ihre journalistischen Erfahrungen in Ländern wie Ecuador, Guatemala, Venezuela oder Mexiko sprechen wollen. Aus Mexiko wird neben der Journalistin aus dem Bundesstaat Guerrero am Abend Heriberto Paredes Coronel auf dem Podium sitzen. Paredes ist vor ein paar Monaten aus Mexiko geflohen, weil er in den Fokus eines Drogenkartells geraten war. Er hatte über deren Aktivitäten im Bergbausektor im Bundesstaat Michoacán berichtet.

»Hier in Deutschland, dem Land der Erinnerung, habe ich gelernt, wie wichtig es ist, den Opfern ein Gesicht zu geben.«

Vania Pigeonutt

Mit Paredes hat Vania Pigeonutt regelmäßig zu tun, denn die Reporterin aus Guerrero, einem der ärmsten und gewalttätigsten Bundesstaaten Mexikos, hilft ihm beim Zurechtfinden in Berlin, wo er dank eines Stipendiums mehrere Monate leben wird. »Als ich im Frühling 2022 aus Chilpancingo, der Hauptstadt von Guerrero, mit dem gleichen Stipendium nach Berlin kam, war ich erst einmal komplett überfordert«, erinnert sich Pigeonutt. »Der Ausbruch aus dem Hamsterrad des Texteschreibens, der Aktualisierung von Online-Statistiken und so weiter ist mir extrem schwergefallen. Ich habe nur noch funktioniert, stand kurz vor einem Burn-out.« Sie brauchte Zeit, um runterzukommen, um das Erlebte zu verdauen, Projekte, Artikel und Etliches mehr abzuschließen, sich neu zu orientieren. Von einem Zurück rieten ihr die Kollegen von »Amapola«, dem investigativen Online-Portal, das Pigeonutt 2018 mitgegründet hatte, mehrfach ab. Zu riskant, hieß es damals.

Daran hat sich wenig geändert. Mexiko ist nach wie vor das gefährlichste Land für Berichterstatter*innen weltweit: Seit dem Jahr 2000 sind 175 Journalist*innen ermordet worden, und Vania Pigeonutt war oft bei Protesten gegen die Morde dabei: in Chilpancingo, aber auch in Mexiko Stadt. Mit einer Handvoll Kolleg*innen hat sie damals mataranadie.com gegründet, eine Homepage, auf der Porträts und Biografien von etwa 70 ermordeten Journalist*innen zu finden waren. »Natürlich wollten wir an jeden und jede erinnern, eine virtuelle Gedenkstätte einrichten, aber wir hatten dafür weder die Ressourcen noch die Zeit«, erinnert sich Pigeonutt im Gespräch. Heute ist die Homepage mit dem Titel »Niemanden Töten« abgeschaltet – dem Team fehlte das Geld, um die Seite am Laufen zu halten.

Erinnerungsarbeit ist für die Journalistin, die in Guerrero erst als Polizeireporterin, später als Koordinatorin für das Online-Portal »Amapola« und immer wieder als Fixer für internationale Medien gearbeitet hat, wichtig. »Hier in Deutschland, dem Land der Erinnerung, habe ich gelernt, wie wichtig es ist, den Opfern ein Gesicht zu geben, Biografien zu rekonstruieren. Von Initiativen wie dem Stolperstein bin ich begeistert«, erklärt die Mexikanerin.

In Mexiko gibt es bisher nichts Vergleichbares. Die Idee, mit so einem kleinen Gedenkstein im Pflaster an Menschen zu erinnern, wo sie gelebt haben, gefällt der quirligen Journalistin. In Mexiko hat sie vor allem zu organisierter Kriminalität und Menschenrechten gearbeitet, ein Buch über das gewaltsame Verschwinden der 43 Studenten aus Ayotzinapa 2014 geschrieben. Doch von dieser Arbeit konnte sie kaum leben, und deshalb nahm sie immer wieder Jobs als Helferin für internationale Journalist*innen an, als sogenannte Fixerin. Diese sorgen für Kontakte in lokale Gemeinden, zu Expert*innen, führen, übersetzen und transkribieren Interviews und führen Journalist*innen, teilweise auch Kamerateams, in Dörfer und Gemeinden, wo sie sich auskennen.

In Guerrero, woher lange rund die Hälfte der mexikanischen Heroinproduktion kam, waren und sind Drogenproduktion und -schmuggel für internationale Medien attraktive Themen. Für die Fixer ist der Job allerdings riskant, massive Drohungen haben viele erhalten, auch Vania Pigeonutt.

»Bei ›Amapola‹ kam nur wenig Geld rein. Ich war auf die Einnahmen als Fixer, oft Tagespauschalen, angewiesen«, erklärt sie und lässt ein paar Bilder aus dieser Zeit über einen Bildschirm flimmern. Die sollen auch am Abend bei der Veranstaltung laufen, für die Pigeonutt auch ein paar Girlanden, Kerzen und Dekostoff eingekauft hat.

Für sie war 2022 ein Wendepunkt: Es war an der Zeit, über ihre Arbeit, die Perspektiven, die permanente indirekte und teilweise direkte Bedrohung nachzudenken. »Es ist vor allem eine physische Bedrohung, die die Journalist*innen vor Ort in den Regionen erleben. Es macht aber auch etwas mit dem Kopf, mit der geistigen Gesundheit, wenn man über solche Themen berichtet«, ist sich Vania Pigeonutt sicher.

Sie hat niemandem mehr vertraut, bevor sie sich für das Stipendium bewarb. Arbeitete wie im Autopilot, schrieb Texte, aktualisierte für »Amapola« die Statistiken nach jedem Mord, jeder Menschenrechtsverletzung, funktionierte. Diese Zeit ist nun vorbei, dank der Erdung und der psychologischen Hilfe, die sie durch das Stipendium in Berlin erhielt. »Ich brauchte Hilfe, um zur Ruhe zu kommen, es hat gedauert«, sagt sie rückblickend.

Im Oktober 2022 beantragte sie ein Visum als Freiberuflerin, erhielt schließlich über die Friedrich-Ebert-Stiftung ein Stipendium, konnte bleiben und sich mit geistiger Gesundheit und Erinnerungsarbeit beschäftigen. Pigeonutt entdeckte Berlin für sich, die Museumsinsel, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auf musealer genauso wie auf Stadtteil-Ebene – mit Stolpersteinen, Gedenktafeln, aber auch Diskussionsveranstaltungen.

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Mittlerweile ist sie für die »Taz«-Panter-Stiftung für die Betreuung von Stipendiaten wie Heriberto Paredes Coronel aus dem mexikanischen Bundesstaat Michoacán oder Glafira Zhuk aus Weißrussland mitverantwortlich. Mit Letzterer spricht sie Englisch, so wie mit den Journalist*innen, die sie früher in Mexiko durch die abgelegenen Drogen-Dörfer von Guerrero führte. Netzwerken, Lernen aus den unterschiedlichen Erfahrungen von Journalist*innen aus Afrika, Asien, Lateinamerika will sie, und dabei ist Berlin für sie eine inspirierende Erfahrung.

Drei Jahre und sechs Monate lebt sie nun in der deutschen Hauptstadt, hat sich orientiert, weiß zu schätzen, dass sie um ein Uhr nachts als Frau unterwegs sein kann. Das sind prägende Erfahrungen für sie. Längst ist sie auch als Freiberuflerin aktiv, beschäftigt sich anders als früher nicht mehr mit den Strukturen der Kartelle, der Suche nach Verschwundenen und dem Berg an ungeklärten und ungeahndeten Menschenrechtsverletzungen in Mexiko, sondern mit der Situation der Kolleg*innen vor Ort. Geistige Gesundheit ist ein wichtiges Thema, aber auch das Erinnern an die Opfer, kritische Berichterstatter beiderlei Geschlechts.

Für sie hat Vania Pigeonutt an diesem Tag einen Tisch vor dem Eingang zum Café dekoriert. Fotos ermordeter Reporter und Reporterinnen sind von Blumen und Girlanden umgeben, dazwischen steht der kleine bunte Totenkopf. Flyer von Reporter ohne Grenzen und Infomaterial liegen aus, und natürlich steht auch eine von Girlanden umgebene Spendendose auf dem Tisch, auf dem mehrere Kerzen brennen.

Für Vania Pigeonutt ist der kleine Altar eine Selbstverständlichkeit am Tag der Toten, für die Kollegen aus Ecuador, aus Guatemala und Venezuela. Doch alle sind sich einig, dass Deutschland etwas hat, was in ihren Heimatländern fehlt oder nur partiell funktioniert: Organisationen, die für die Pressefreiheit eintreten. Davon braucht es mehr, da ist sich Vania Pigeonutt sicher, die gerade an einem Podcast mit zwei mexikanischen Kollegen arbeitet, die wie sie in Europa gestrandet sind.

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