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Trümmerwüste statt nahöstlicher Côte d’Azur

Ein französischer Historiker hat sich in Gaza umgeschaut und ist entsetzt: Jean-Pierre Filiu

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 4 Min.
Palästinenser trauern im Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt um ihre Angehörigen, die bei einem Angriff der israelischen Armee getötet wurden, November 2025.
Palästinenser trauern im Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt um ihre Angehörigen, die bei einem Angriff der israelischen Armee getötet wurden, November 2025.

Am Ende seiner Reportage aus Gaza wird der 63-jährige französische Historiker und Islamwissenschaftler Jean-Pierre Filiu grundsätzlich. Die Welt sei dabei, auseinanderzubrechen, warnt er; sie dulde es, wie in Gaza (und in der Ukraine) die bisherige Weltordnung mit Füßen getreten werde. Menschenrechte und Völkerrecht zählten nicht mehr, das Recht des Stärkeren triumphiere.

Sollten in Gaza die Visionen Donald Trumps hinsichtlich einer »Côte d’Azur des Nahen Ostens« umgesetzt werden (und in der Ukraine ein Diktatfrieden des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Schulterschluss mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen), dann lasse die Welt sämtliche Lehren aus vergangenen Kriegen außer Acht. Was bleibe, sei die Gier von Immobilienjägern oder, in den Worten von Filiu: Gaza werde ausgeliefert, und zwar »den Zauberlehrlingen des Datenhandels, den Kanonieren der künstlichen Intelligenz und den Aasfressern der menschlichen Not«. Die »Niedertracht einer Welt« der Trumps, Netanjahus, Putins und der Hamas habe dann gesiegt.

Um die Jahreswende 2024/25 war es Filiu gelungen, mit einer humanitären Organisation nach Gaza zu kommen und die verwüstete (und hermetisch abgeschlossene) Welt in Augenschein zu nehmen. Er kennt die Region, eine der bis Mitte des 20. Jahrhunderts »blühendsten Oasen des Nahen Ostens«. Seit 1980 reiste er regelmäßig in diese »palästinensische Enklave«. Sein fundiertes Wissen über Gaza verdankt sich eigenen Recherchen wie auch etlichen Beziehungen und Freundschaften dort. Der Islamwissenschaftler ist also wohlinformiert, gesteht aber, dass er vollkommen unvorbereitet darauf war, was er sodann erleben musste.

»Die Sabotage der Zweistaatenlösung spielte der islamistischen Hamas in die Hände«, blickt Filiu zurück. Im Juni 2007 hatte die Hamas die Palästinensische Autonomiebehörde aus dem Gazastreifen vertrieben. Die israelische Regierung antwortete mit einer Blockade und bezeichnete die palästinensische Enklave fortan als »feindliches Territorium«.

Ein fatales Diktat, denn: »Eine solche Bezeichnung setzt nicht nur die gesamte Bevölkerung von Gaza mit der Hamas gleich, sondern verbietet es israelischen Bürgern unter Androhung von Strafe auch, die Enklave zu besuchen.« Militärisches Sperrgebiet also, seit dem Rachefeldzug von Benjamin Netanjahus Truppen verwüstet.

»Das Blutbad, das die Hamas und ihre Verbündeten im Oktober 2023 anrichteten«, so Filiu, »weckte in der israelischen Bevölkerung die Vernichtungsangst, die die zionistischen Partisanen im Herbst 1947, zweieinhalb Jahre nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern, ergriffen hatte.« Die Regierung Netanjahu steigerte die Gewalt, rief zur »Wiederherstellung der Abschreckung« auf, forderte den »totalen Sieg« gegen die Hamas. »Das sind Parolen«, schreibt Filiu, »die eher auf den Opportunismus des Premierministers als auf eine klare und begründete Militärstrategie zurückzuführen sind.« Netanjahu verschanze sich hinter der Kriegsmaschinerie, um sich der Rechenschaft vor Gericht im eigenen Land wegen Korruption, aber auch wegen Kriegsverbrechen vor dem 7. Oktober 2023 zu entziehen.

Mittlerweile hat der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Joaw Galant erlassen wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Lieferungen medizinischer Hilfsgüter und Medikamente für Gaza seien absichtlich verhindert worden. Ärzte waren gezwungen, »verletzte Personen zu operieren und Amputationen, auch bei Kindern, ohne Betäubungsmittel vorzunehmen«.

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Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 hatte ein israelischer General, Ghassan Alian, die Parole für den Rachefeldzug ausgegeben: »Menschliche Tiere müssen so behandelt werden, und wir handeln dementsprechend. Es wird kein Wasser und keinen Strom geben, sondern nur Zerstörung. Ihr habt die Hölle gewollt, ihr werdet die Hölle bekommen.« Das war dann die Marschroute für die folgenden Monate.

Filiu registriert überall in Gaza Zerstörung, Tod, Trauma. »Der Ausdruck ›ethnische Säuberung‹ scheint nicht übertrieben«, urteilt der Historiker, »um die methodische Vertreibung der Bevölkerung, die ebenso methodische Zerstörung von Gebäuden und das gezielte Beschießen der letzten Orte des organisierten Lebens, nämlich der Krankenhäuser, zu bezeichnen.«

Khan Junis, einst wohlhabend, wasserreich, fruchtbar und die zweitgrößte Stadt im Gazastreifen mit rund 300 000 Einwohnern im Jahr 2023, ist heute eine Wüste, dem Erdboden gleichgemacht. Kinder, Ärzte, Journalisten starben im Inferno. Krankenhäuser wurden gestürmt, Hilfslieferungen boykottiert. Demütigungen, Willkür, Folter, Verschleppungen, Inhaftierungen sind Alltag in Khan Junis, das auch schon mit einer Mondlandschaft verglichen wurde. »Ich verstehe jetzt besser, warum Israel der internationalen Presse den Zugang zu einer so erschütternden Szene verwehrt«, schreibt Filiu.

Filius Reportage zu lesen, ist schwer zu ertragen. Und doch ist sie eine einzigartige Quelle – gegen eine Mauer des Schweigens, eine Anklage von Machthabern, die außer Rand und Band sind.

Jean-Pierre Filiu: Ein Historiker in Gaza. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung. A. d. Franz. v. Christoph Miething. Matthes & Seitz, 186 S., br., 14,99 €.

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