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40 Jahre nach dem Mord an Ramazan Avcı: Er starb Heiligabend
Auch 40 Jahre nach seiner Ermordung durch Nazis wird in Hamburg an Ramazan Avcı erinnert
Vor 40 Jahren, am 21. Dezember 1985 wurde Ramazan Avcı in Hamburg von mehreren Nazi-Skinheads fast totgeschlagen – mitten am Tag, auf offener Straße. Heiligabend erlag er seinen Verletzungen. Die Unruhe und der Protest unter den Göçmen, den Eingewanderten aus der Türkei, war so groß, dass auch der Senat in Hamburg den Mord nicht mehr als »Einzelfall« kleinreden konnte.
»Der Mord an Ramazan markiert in der Geschichte der Migration einen Wendepunkt, jedenfalls für Türkeistämmige Menschen«, so Gürsel Yıldırım von der Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı gegenüber »nd«. »Am 11. Januar 1986 reagierten 15 000 Menschen mit einer Großdemonstration gegen sogenannte Ausländerfeindlichkeit und Rassismus.«
Zur bis dahin größten Antirassismus-Demonstration in der Geschichte der BRD hatten zahlreiche auf die Türkei orientierte Vereine aus unterschiedlichen politischen Kreisen aufgerufen, bis hin zu Moscheen, aber auch »der DGB gehörte damals zu dem breiten Spektrum an Organisationen, die zu der Demonstration am 11. Januar 1986 aufgerufen hatten«, erinnert Tanja Chawla, Vorsitzende des DGB in Hamburg, im Gespräch mit dem »nd«.
»Der Mord an Ramazan markiert in der Geschichte der Migration einen Wendepunkt.«
Gürsel Yıldırım
Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı
In den Einzelgewerkschaften waren bereits viele arbeitende Migrant*innen organisiert, als die offizielle Politik gegenüber den »Gastarbeitern« noch davon ausging, dass sie nur für eine begrenzte Zeit und ohne Mitsprache ein Aufenthaltsrecht hätten. »Als Gewerkschaft haben wir gelernt, dass Konflikte um Arbeit immer auch von der Debatte um Migration und damit einhergehend von Rassismus mitgeprägt werden«, betont Chawla.
Während in den Gewerkschaften aktive migrantische Mitglieder sich bereits in den 80er Jahren gegen Rassismus engagierten, versagten hier die Parteien in der Hamburgischen Bürgerschaft, bis auf die Grünen: »Die etablierten Parteien dagegen ignorierten die Demo und zuvor lange Zeit auch die Hamburger Zustände«, sagt Yıldırım.
Dabei hatten sechs Monate zuvor Nazi-Skins in Hamburg bereits Mehmet Kaymakçı ermordet – im Alltag erlebten Migrant*innen eine drastische Zunahme rechter Gewalt. Aus den Protesten entstand das Bündnis Türkischer Einwanderer, aus dem später die Türkische Gemeinde Deutschlands gegründet wurde.
Seit 2010 veranstaltet die Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı jedes Jahr am 21. Dezember eine Gedenkkundgebung am Tatort. Die Bürgerschaftsfraktion der Linken und die Rosa-Luxemburg-Stiftung Hamburg organisierten vergangene Woche in Kooperation mit der Initiative zum Gedenken an Avcı eine Veranstaltung vor dem Jahrestag im Rathaus. Neben Ünal Zeran von der Gedenkinitiative auf dem Podium: Felix Krebs und Florian Schubert, die Autoren des dieses Jahr erschienenen Buches »Hamburgs ›Baseballschlägerjahre‹« über rechte und rassistische Gewalt in den 80er Jahren.
Im Gespräch mit »nd« erinnert Krebs daran, dass sich die 1986 allein regierende SPD einer Teilnahme an der Gedenkdemo verweigert hatte: »Womit wir bei denen sind, für die der Mord keine Zäsur war: für die Polizei, die Staatsanwaltschaft, das Gericht und aus der Politik SPD, CDU und FDP«, kritisiert Krebs. Für sie sei der Mord nur ein Totschlag gewesen, also nicht rassistisch oder politisch motiviert, sondern eher ein Problem jugendlicher Gewaltkriminalität. Mit entsprechend milden Verurteilungen endete der Prozess gegen die Mörder von Ramazan Avcı.
Auf der Gedenkveranstaltung kam aus dem Publikum die Frage, ob sich seit dem Mord an Ramazan Avcı etwas geändert habe. »1985 war nur 40 Jahre nach dem Nationalsozialismus – solange, wie der Mord an Ramazan Avcı jetzt her ist. Viele Ämter waren noch mit alten Nazis besetzt«, so Ünal Zeran. Diese hätten kein Interesse daran gehabt, Rassismus und Neonationalsozialismus zu bekämpfen.
Heute habe ein Drittel der Bevölkerung eine familiäre Migrationsgeschichte, was sich auch in Aktivitäten der Zivilgesellschaft zeige, die bis in Parteien und Vereine hineinwirke. Trotz Rechtsentwicklung seien auch Erfolge erkämpft worden, etwa die Beratung für Opfer antisemitischer oder rassistischer Gewalt. Die beste Art, Solidarität mit den Angehörigen und Opfern rassistischer und antisemitischer Gewalt zu üben, seien garantiertes Bleiberecht und finanzielle Absicherung – als klares Signal, dass sie in die Gesellschaft gehören.
»›Kein Vergeben, kein Vergessen‹ ist der Aufruf zum Kampf gegen den Rechtsruck.«
Irini
Hochschule für Bildende Künste Hambur
Auch im öffentlichen Diskurs werden Opfer viel stärker wahrgenommen als vor 40 Jahren. Etwa beim Hamburger Sport-Verein, dem HSV. Die Mörder von Ramazan Avcı traten vor 40 Jahren als HSV-Fans auf. Der Mord »steht heute stellvertretend für die Versäumnisse von Organisationen und Institutionen, wie dem HSV, bei der Wahrnehmung ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung, dadurch wirkt er als Auftrag an unser heutiges Handeln«, erklärte das HSV-Presseteam dem »nd« auf Anfrage.
»Heute werden rassistische Gewalt und auch diskriminierende Äußerungen vom allergrößten Teil der HSV-Fans abgelehnt«, so das HSV-Presseteam. »Das heißt nicht, dass es kein Potenzial dafür mehr gibt; es heißt aber, dass nicht mehr unwidersprochen Gewalt, sei sie verbal oder körperlich, ausgeübt werden kann und eine deutliche Mehrheit sich klar dagegen positioniert.« Ein Zeichen für dieses Umdenken ist ein Graffiti im Stadion des HSV: »Love Hamburg, Hate Racism«.
Die Gedenk-Initiative wird bei der Organisation der jährlichen Gedenkkundgebung vom Bezirksamt Hamburg-Nord unterstützt. Dort wird das neu gestaltete Denkmal für Avcı eingeweiht: »Wir verstehen Erinnerungskultur als handelnde Praxis, welche Lehren aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft zieht«, so Irini von der Hochschule für Bildende Künste. »Das Sichtbarmachen der Namen und Geschichten im öffentlichen Raum kann dem Vergessen entgegenwirken. Tafeln und Gedenksteine können diese Aufgabe aber nicht stellvertretend übernehmen. ›Kein Vergeben, kein Vergessen‹ ist der Aufruf zum Kampf gegen den Rechtsruck in Politik und Gesellschaft.« Ramazan Avcı wird in Hamburg nicht vergessen werden.
Gedenkveranstaltung mit Kundgebung und Denkmaleinweihung: Sonntag, 21.12., 14 Uhr, Ramazan-Avcı-Platz, Hamburg, S-Bahn Haltestelle Landwehr. Der Veranstalter bittet darum, Blumen, Kerzen und Transparente mitzubringen. Nationalflaggen sind unerwünscht.
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