Demokratiedefizit auf Wikipedia?

Günter Schuler kritisiert rechte Tendenzen in der Internet-Enzyklopädie / Günter Schuler ist Autor des Buches »Wikipedia inside« aus dem Unrast-Verlag

  • Lesedauer: 3 Min.

ND: Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia hat auf den ersten Blick demokratische Strukturen. Jeder kann mitschreiben, und wenn es zu Meinungsunterschieden kommt, gibt es Abstimmungen und Mehrheitsentscheidungen. Dennoch kritisierst du die Herrschaftsstrukturen bei Wikipedia. Warum?
Schuler: Es kann zwar jeder Wikipedia-Einträge editieren, allerdings zeigt die Erfahrung, dass diejenigen Editoren den meisten Einfluss haben, die am hartnäckigsten sind und viel Zeit investieren können, also nicht die, die fachlich am versiertesten sind. Die Diktatur der Zeitreichen über die Zeitarmen, um ein Wikipedia-internes Bonmot zu bemühen, führt zu Artikeln mit stark subjektiven Meinungen. Ein anderes Problem ist die informelle Hierarchie. Es hat sich ein Wust an Regeln etabliert, den nur wenige überschauen. Dazu gehören die Administratoren, die recht weit gehende Befugnisse haben und Benutzer sperren und löschen können.

Wie setzt sich die Wikipedia-Community zusammen?
Der durchschnittliche Wikipedianer ist ein junger Akademiker. Interne Zahlen gehen von 85 bis 90 Prozent Männeranteil aus. Das wirkt sich auch auf die Umgangsformen und die Diskussionen aus, die oft nicht sachdienlich sind, sondern zum Selbstzweck betrieben werden. Die Leute rücken ihre Kenntnisse oft zur Selbstdarstellung in den Vordergrund. Ich denke, dass dies auf viele Frauen abschreckend wirkt.

In deinem Buch gehst du auf rechte Tendenzen bei Wikipedia-Artikeln ein. Gibt es Nazis bei Wikipedia?
Wie in der Gesellschaft gibt es auch bei Wikipedia eine breite Braunzone. Nazis, die offen agieren, werden natürlich enttarnt und fliegen dann raus. Schwieriger ist es bei Leuten, die rechtslastige Anschauungen vertreten. Insbesondere bei einschlägigen Themen zum Dritten Reich gibt es geschichtsrevisionistische Einträge.

Kannst du aktuelle Beispiele nennen?
Um den Artikel zu Eva Herman, die ja einige rechtspopulistische Äußerungen von sich gegeben hatte, findet im Moment ein Tauziehen darüber statt, wie ihre Formulierungen ausgelegt werden, ob sie es so gesagt und was sie gemeint hat. Ein weiteres konkretes Beispiel: Klassische Organisationen aus dem Dritten Reich, Hitler-Jugend, Bund deutscher Mädel oder Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps wurden in den vergangenen Monaten mit Nazidevotionalien und Emblemen verziert. Im Moment bemühen sich einige User, diese Artikel zu neutralisieren.

Hat deine Kritik etwas bewirkt?
Ich habe den Eindruck, dass Leute, die eine Wikipedia wollen, die demokratischen oder aufklärenden Idealen verpflichtet ist, durch meine Kritik eine Rückenstärkung erfahren haben. Einige Diskussionen, wie zum Beispiel über eine Antidiskriminierungsetikette, leben momentan erneut auf.

Was müsste sich ändern, damit Wikipedia besser wird?
Grundsätzlich halte ich eine Positionierung auf der Basis der Menschenrechte für unabdingbar. Das hieße jedoch, von der derzeit inhaltsleeren Interpretation des »neutralen Standpunkts« abzurücken, der beispielsweise Rechten einen Freibrief gibt, auch NS-Literatur als Quellen anzugeben. Das zweite, was ich für notwendig halte, sind transparente Strukturen. Außerdem empfehle ich eine Trennung zwischen Autoren und Leuten, die Wartungsarbeiten machen bzw. redigieren. Wenn sich in diesen Bereichen Fortschritte ergeben würden, könnte Wikipedia einen guten Weg nehmen.

Fragen: Niels Seibert

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