»Armenier« wird geradezu als Schimpfwort gebraucht

Erdal Dogan, Rechtsanwalt der Familie Hrant Dinks, über die Minderheitenpolitik Ankaras und die Rolle der türkischen Justiz

  • Lesedauer: 4 Min.
Der Anwalt Erdal Dogan vertrat den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink bis zu dessen Ermordung am 19. Januar 2007. Inzwischen ist er sowohl im Mordprozess Dink als auch im Prozess wegen der Ermordung dreier christlicher Missionare in Malatya jeweils als Nebenkläger für die Familien der Opfer aktiv. Über Vergangenheit und Gegenwart des türkischen Nationalismus sprach mit ihm Martin Ling.
»Armenier« wird geradezu als Schimpfwort gebraucht

ND: Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat eine Änderung des berüchtigten Paragrafen 301 über die Beleidigung des Türkentums angekündigt. Beginnt die Regierung jetzt, nationalistische Auswüchse zu bekämpfen?
Dogan: Das ist Augenwischerei. Die geplante Formulierung ist eine Rückkehr zu genau der Fassung, die zur Verurteilung Hrant Dinks wegen Beleidigung des Türkentums herangezogen wurde. Dieser Paragraf muss ganz gestrichen werden.

Der Mord an Hrant Dink jährte sich am 19. Januar, der erste Jahrestag des Mordes an drei christlichen Missionaren in Malatya steht noch bevor. In beiden Fällen sind türkische Nationalisten als Täter überführt. Nimmt der extreme Nationalismus zu?
Der türkische Nationalismus ist tief in der Geschichte der Türkei verwurzelt. Die nicht-muslimischen Minderheiten wurden immer schon als Ungläubige gebrandmarkt – das gilt auch für die Überlebenden des Völkermords an den Armeniern. Der Ausdruck Armenier wird auch von Politikern immer wieder als Schimpfwort gebraucht. Viele der in der Türkei lebenden Armenier benutzen deshalb einen türkischen Namen, um sich vor Diskriminierung zu schützen. Dasselbe gilt für die verbliebenen Griechen. Es gibt in der Türkei eine rassistische Grundstimmung, die sich in der letzten Zeit zu einer Lynchatmosphäre gesteigert und zu Mordangriffen geführt hat. Die Brandreden fallen auf fruchtbaren Boden, begünstigt durch die ungelöste kurdische Frage. Das führt zu einer Eskalation des Nationalismus. In jüngster Zeit werden bei Begräbnissen junger gefallener Soldaten nationalistische Parolen skandiert und der Nationalismus wird geschürt.

Woher rührt die wachsende Aggressivität des Nationalismus?
Das liegt vor allem an der aufgeflammten Diskussion um den Völkermord an den Armeniern und der De-facto-Existenz eines kurdischen Staates in Nordirak. Das sorgt für Unbehagen in der Türkei. Eine offizielle Aufzählung des Generalstabs über die größten Gefahren für die Türkei nennt den kurdischen Staat in Nordirak an erster Stelle – vor der Gefahr durch islamischen Terror. Und erst an dritter Stelle folgt die kurdische Untergrundorganisation PKK.

Zum ersten Mal gibt es einen Staat mit dem Namen Kurdistan, direkt an der türkischen Grenze – und das, wo Ankara das ungelöste Problem mit den Kurden im eigenen Land hat. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren rund ein Dutzend Staaten in aller Welt den Völkermord an den Armeniern anerkannt haben. Da die Türkei keinen friedlichen Politikansatz hat, um auf die Genoziddiskussion und die kurdische Frage Antworten zu finden, fühlt sie sich in die Enge getrieben.

Bei der Beerdigung Hrant Dinks gab es eine riesige Demonstration unter dem Motto »Wir sind alle Armenier«. Gibt es wachsende gesellschaftliche Widerstände gegen den türkischen Nationalismus?
Diese Gegenreaktion gibt es in der Tat. Aber der Staat geht sehr aggressiv gegen solche Bekundungen vor. Deswegen ist es bisher nicht möglich, kontinuierlich das Gegenbewusstsein aufzubauen.

Welche Wirkung hatte die Losung »Wir sind alle Armenier« auf die Gesellschaft?
Das türkische Geschichtsverständnis beruht auf einer Feindschaft gegen Griechen und Armenier. Dieser Slogan hat das auf den Kopf gestellt und entsprechend für Verwirrung gesorgt.

Deswegen reagiert der Staat mit übertriebener Härte?
Nicht nur das. Sie fürchten sich davor, dass ihre Politik vor dem Bankrott steht, die auf dem Feindbild der Armenier basiert. Das lässt sie überreagieren. Selbst die kurdische PKK, die als Terroristenorganisation definiert wird, wird von Ankara als »Armenierbrut« bezeichnet. Wenn Zivilisten, Intellektuelle, Professoren aufstehen und symbolisch sagen »Wir sind Armenier«, ist dies für die türkische Staatsdoktrin ein Offenbarungseid, und das schürt Panik bei Regierung und Militärführung.

Welche Rolle spielt die Justiz? Die Prozesse wegen des Mordes an Hrant Dink und in der Mordsache Malatya laufen noch. Früher gab es nicht einmal Verfahren in solchen Fällen. Ist das nicht ein gewisser Fortschritt?
Zum einen wird der Europäischen Union und der Weltöffentlichkeit verkündet: Schaut her, wir haben die Täter gefasst, es geht alles seinen rechtstaatlichen Gang, ihr müsst euch keine Sorgen machen. Gleichzeitig wird die Präsentation der jugendlichen Täter im Inland als Einschüchterung gebraucht. Sie senden damit die Botschaft an die Gesellschaft, dass solche Lynchmorde jederzeit passieren können. Die Jugendlichen werden zu Helden stilisiert. Die Hintermänner wird die Justiz unbehelligt lassen.

Von Fortschritt kann keine Rede sein. Vielmehr werden die Reformen zu Beginn des Jahrtausends wie die Revision des Strafgesetzbuches und der verbesserte Minderheitenschutz durch neue Gesetzgebungen ausgehebelt, die in Richtung eines totalitären Staates gehen.

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