Wozu man noch da ist

Tanz mit der Zeit von Trevor Peters

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Raum wie ein anatomisches Kabinett, in dem sich die vier Tänzer zwischen Schauvitrinen, hautlosem Menschenmodell, künstlichem Skelett behutsam bewegen, die Arme führen, improvisieren, über Holzboden robben, der so alt sein könnte wie sie selbst. Studenten suchen auf ihren Blättern nach dem idealen zeichnerischen Ausdruck dieser Körper, die ausgießen, was sie in einem langen Berufsleben eingesogen haben. So beginnt ein ungewöhnlicher Film. »Tanz mit der Zeit« berichtet über ein Bühnengenre, das es selten auf die Leinwand schafft, und wenn, dann mit knackig jungen Darstellern, ihren Ausbildungs- und Aufstiegsproblemen, Rivalitäten und Liebeleien. Nichts davon bannt der aus Neuseeland gebürtige, seit 1973 in Deutschland beheimatete Regisseur Trevor Peters, studierter Philosoph, auf Zelluloid. Seine Akteure sind heute zwischen 65 und 81, haben ihre Karriere, ein gut Teil Leben, ihren individuellen Tanz in und mit stürmischen, auch bitteren Zeiten hinter sich.

Am Anfang stand die Idee der Leipziger Choreografin Heike Hennig, ehemalige Ballettsolisten der Oper für eine biografisch getönte Bühnenproduktion zu gewinnen. Ihre vorgefassten Pläne, wird Hennig später im Film gestehen, habe sie angesichts der tanzenden Senioren über Bord geworfen: keine Herzschritttöne zur Untermalung, keine Klagen über Krankheit. »Zeit – tanzen seit 1927« wurde nicht nur bei der Uraufführung Anfang 2006 im Kellertheater der Leipziger Oper, sondern auch auf Gastspielen ein bewegender Erfolg. Das veranlasste Zufallsbesucher Peters zu seinem dokumentarischen Film, der die abgelichteten Szenen der Aufführung durch Erzählschnipsel jener vier Solisten und historische Sequenzen ergänzt und bereichert. Die Synthese aus Tanz und Bericht gelingt so perfekt, dass sich eins durch das andere wie absichtsvoll erklärt: Leben als Quell der Kunst. Vier Leben, vier Schicksale auch. Ursula Cain, Dresdnerin Jahrgang 1927, studierte modernen Tanz bei Mary Wigman und Dore Hoyer, klassischen Tanz später auch bei Tatjana Gsovsky, wurde für gut ein Jahrzehnt, bis zu einem Bühnenunfall, Leipzigs führende Ballerina. Als Pädagogin konnte sie angehenden Tänzern lange ihre Erfahrung weitergeben, arbeitet heute mit Amateuren. Am Kinderballett Zittau begann Christa Franzes Laufbahn, der nach knapp zehn ehrgeizigen Solistenjahren in Leipzig Kammertanzabende mit religiöser Thematik folgten. Buchhändlerin lernte sie dann, schreibt Lyrik, verschickt monatlich Gedankensplitter an Freunde. Unverheiratet, mit Gott als Vater und Partner. Leben zwischen Jesus und Yoga.

Vom Maschinenschlosser fand Siegfried Prölß, Dresdner Jahrgang 1934, über den Volkstanz an die Palucca-Schule, tanzte unter Emmy Köhler-Richter Charakterfach in Leipzig. Danach studierte er Fotografik, war bis zur Wende einer der bekanntesten Tanzfotografen der DDR. Vor der besseren technischen Ausrüstung seiner altbundesdeutschen Kollegen kapitulierte er in die Rente. Den wendungsreichsten Weg ging als Jüngster der Breslauer Horst Dittmann: Arbeiterensemble in Greiz, Ballettstudium und Tänzer in Leipzig, statt Choreografenausbildung dann Töpferlehre und Keramiker, kurz Verkäufer in Nürnberg, ehe er als Sozialarbeiter für Behinderte und Kranke seine Bestimmung fand. Spürbar in sich ruht dieser lebenslange Single, ist so gesellig wie eigenbrötlerisch.

Jeden zeigt der Film im privaten Umfeld, ob Küche, Garten, Physiotherapie, Fitnessstudio. Individuelle Einblicke entstehen so, die wie Kommentare den Tanzszenen einliegen. Auf der Bühne enthüllt jeder sein Naturell, zeigt Sehnsucht, Hoffnung, Zärtlichkeit, Angst. Gefühle, die ein Leben ansammelt, in jedem zu besonderem Ausdruck bringt. Starke, disziplinierte, mutige Persönlichkeiten sind sie alle, finden sofort in ihren professionellen Gestus zurück. Wunderbare hingebungsvolle Solos und Duette tanzen sie zu Bach und Mahler, Rücken strecken, Gesichter straffen sich, Augen glänzen wie beim Debüt. Reife und Naivität in der Würde des Alters, im Wissen um die eigene Endlichkeit, ein Dank für erfüllt Erlebtes.

Ohne modischen Schnickschnack hat Niels Bolbrinker dabei seine Kamera geführt, Nahaufnahmen gesetzt, mittanzend Gruppen verfolgt. Ehe der Streifen nach 100 Minuten endet und die Akteure im Abendlicht die Oper verlassen, hat er sie bei Proben zur Nachfolgekreation beobachtet: im Tanz mit Kollegen, die ein halbes Jahrhundert jünger sind. Tanz eben mit der Zeit. Inzwischen liegt das Buch zum Film vor. Und während der Streifen in den Kinos startet, ist Ursula Cain gerade zum Generationsgespräch auf einem Empfang beim Bundespräsidenten.

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