Was zählt ist Knüller, nicht Recherche
Vor 25 Jahren veröffentlichte der »Stern« perfide Fälschungen, die Hitler-Tagebücher
Nervös reckte Gerd Heidemann am 25. April 1983 ein paar Bücher in die Höhe, und als die Meute Fotografen vor ihm brüllte, er möge das Siegeszeichen machen, da spreizte der blasse Reporter die Finger zum V. Es war das Zeichen eines Sündenfalls. Denn gegen alle Bedenken – einem abschließenden Gutachten des BKA zum Trotz – veröffentlichte der »Stern« heute vor 25 Jahren Sensationelles. »Hitlers Tagebücher entdeckt«, prangte drei Tage zuvor bei der internationalen Pressekonferenz in Hamburg auf überdimensionalen Titelbildern hinter Heidemann. Sie sollten bald darauf in stark erhöhter Auflage die Zeitungskioske prägen.
Dass es sich um Fälschungen handelt, wehte durch die Gerüchteküchen der Republik, blieb aber den Zauderern vorbehalten, den Nostalgikern und Mutlosen. Ihren prominentesten, Andreas Hillgruber, schmähte das Magazin im Editorial als »Archiv-Ayatollah« mit rechtem Stallgeruch. Es war nicht unbedingt die Zeit der Recherche, es war die des Scoops, der Knüller um des Knüllers willen. Eine hektische Zeit. Denn es dräute etwas am Medienhimmel. Die Yellowpress wurde um den Begriff des Lifestyle erweitert und expandierte kräftig, der Nachrichtenwert von Königshäusern war mit Lady Dianas Hochzeit enorm gewachsen, vor allem aber planten die Privatsender den Sprung ins Programm. Was das bedeutet, konnte man bereits im Frankreich beobachten: Dort bauschte RTL Stars wie Sternchen zu echten News auf und füllte den Platz zwischen Hollywoodfilmen mit Soapoperas oder langen Werbeblöcken. Die neue, kommerzielle, aufgeregte Mediengesellschaft war im Anflug, ihre Verbreitungstechniken beschleunigten sich, die Generation Golf hatte es eilig.
Da konnte es sich ein großes Blatt wie der »Stern« nicht leisten, zaghaft mit seinem Exklusivmaterial umzugehen. Nur wenige Wochen dauerte es vom Ankauf der ersten von 60 Bänden aus der Hand des brillanten Fälschers Konrad Kujau bis zur ersten Druckfahne (an »Führers Geburtstag«). Vorbei an großen Teilen der Redaktion wurde der Deal, bei dem gut neun Millionen Mark in Plastiktüten den Besitzer wechselten, getätigt. Materialproben, Gegenexpertisen, ja selbst die Überprüfung der Initialen auf den Buchdeckeln wurden verschoben. Die Akteure im Verlagshaus waren »high von der Droge Sensation«, schrieb der damalige ARD-Tagesthemen-Moderator Manfred Buchwald.
Geschichte wird gemacht, es geht voran, dachte sich dagegen der damalige Chefredakteur des »Stern«, Peter Koch, und verkündete vollmundig, die Historie des Nationalsozialismus müsse »in großen Teilen neu geschrieben werden«. Dieser »heilige Eifer«, wie Buchwald es nennt, galt auch Hitler selbst, dem unbekannten Wesen. Seine vermeintlichen Gedanken rückten nach den Tätervolkdebatten der Auschwitzprozesse und 68er-Proteste die Führungsclique der Nazis in den Fokus. Nicht zufällig gründete Guido Knopp kurz nach dem Skandal die »ZDF-Redaktion Zeitgeschichte« und verbreitet seither emsig die Theorie des verführten Volkes. Auch Helmut Kohls Besuch der SS-Gräber von Bitburg oder – viele Jahre später – Oliver Hirschbiegels »Untergang« kann man im Lichte des Skandals betrachten. Der Nationalsozialismus wurde nicht gerade salonfähig, aber seine Thematisierung massentauglich. Und Massentauglichkeit zugleich zur Existenzberechtigung der Medien. Die Tagebücher von »Adolf Hitler Superstar« haben also nicht das Pressewesen beschädigt, sondern seine Seriosität.
Konrad Kujau und Gerd Heidemann wanderten ins Gefängnis, nicht aber die beiden Chefredakteure. Der »Stern« erholte sich bald wieder, nicht aber das Renommee des Qualitätsjournalismus, ob gedruckt oder gesendet. Sachlichkeit wird seither oft mit Vielfalt verwechselt. Privatsender und Regenbogenpresse galten plötzlich nicht nur als Unterhaltungsfaktoren, sondern Lieferanten relevanten Lebensinhalts. Verglichen mit der drögen Tagesschau sehen viele in den glitzernden RTL-News längst die verlässlichere Quelle – auch weil reines Entertainment weniger korrumpierbar scheint, weil harte Nachrichten Reflexion erfordern, weil Realität anstrengend ist.
Selbst die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« hat heute ein Farbbild auf Seite 1. Ernst gilt ir-gendwie als fadenscheinig und Politik als dubios. Verlässlicher sind da doch die Monarchien mit ihrer betonierten Tradition oder Hollywoods ferner Glanz. Wie nah sich Buckingham und Bonn kamen, zeigte fünf Jahre nach der »Stern«-Affäre das Geiseldrama von Gladbeck. Wie nie zuvor wurden die Medien Teil der Story – und Reporter von Frank Plasberg bis Udo Röbel lange vor dem 2. Golfkrieg quasi embedded, das Mikro tief im Fluchtauto, die Kamera voll auf Silke Bischoffs leere Augen.
Im Rennen um Titelstorys hatte sich die Medienrepublik selbst überholt. Erst kommt die Schlagzeile, dann die Recherche.
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