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  • Bundestag beschließt Vertrag zur Reform der Europäischen Union

Kalter Putsch gegen das Grundgesetz

Die EU-Verfassung ist gescheitert – die Lissaboner Ermächtigungsgesetze sollen an ihre Stelle treten

  • Jürgen Elsässer
  • Lesedauer: 6 Min.
Heute wird der Bundestag endgültig den so genannten EU-Reformvertrag beschließen. Er gibt dem EU-Rat diktatorische Befugnisse und ermöglicht unkontrollierbare Kriegseinsätze.

Der Bundestag fällt heute eine historisch bedeutsame Entscheidung, die dieses Land grundlegend verändern wird – im schlechten Sinne, wie immer in den letzten Jahren, wenn die Herrschenden dem Volk eine »Reform« versprachen. Zur Abstimmung steht dieses Mal nicht die mit diesem Begriff vernebelte Zerstörung des Gesundheitswesens, des Rentensystems oder der Bahn, sondern die »Reform« der Europäischen Union.

Man darf davon ausgehen, dass die Abgeordneten über einen Text abstimmen werden, den nur eine kleine Minderheit gelesen hat: Die EU hat das Gesamtdokument mit insgesamt 479 Seiten erst vor neun Tagen, am 15. April, als zusammenhängenden Text veröffentlicht. Das Ganze ist ein selbst für Akademiker schwer verstehbares Paragrafenwirrwarr, das – so der britische Historiker Timothy Garton Ash – »eher einer Bedienungsanleitung für Gabelstapler gleicht«.

Ein Ermächtigungsgesetz
Etwa 95 Prozent der Bestimmungen, so die Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel, gleichen jenen der EU-Verfassung, die 2005 durch Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist. Schon damals monierten linke Parteien, Friedensbewegung und Globalisierungskritiker wie Attac die militaristischen und neoliberalen Implikationen des Machwerks.

Es sind aber eher konservative Mahner, die auch auf die Gefahren der sogenannten Reform für die Demokratie hinweisen. An deren Spitze stellte sich der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog (CDU), der im Januar 2007 zur Ablehnung der EU-Reform aufrief und die Frage stellte, ob man nach deren Verabschiedung »die Bundesrepublik Deutschland noch uneingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen kann«.

Im Zentrum dieser Befürchtungen steht der Artikel 33 des EU-Vertrages. Dort wird im Absatz 6, ein »vereinfachtes Änderungsverfahren« beschrieben, durch das künftig der EU-Rat eigenmächtig »die Änderung aller oder eines Teiles der Bestimmungen ... des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union« beschließen kann. Damit können die EU-Granden Direktiven zur Finanz- und Wirtschaftspolitik, zur Erhebung eigener EU-Steuern, aber auch zur Inneren Sicherheit und zur Einwanderung erlassen, ohne dass die nationalen Parlamente dies kontrollieren könnten. Volksabstimmungen sind ohnedies nicht vorgesehen. Der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider bezeichnet den Artikel 33,6 als »Ermächtigungsgesetz« und spricht von einer »Diktaturverfassung«. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler – eines der wenigen Mitglieder der Union, die heute mit Nein stimmen werden – ergänzt: »Dann geht die Staatsgewalt nicht mehr, wie das Grundgesetz es fordert, vom Volke aus, sondern von der EU. (...) Letztlich verlieren die Mitgliedsstaaten ihre Staatlichkeit und werden zu einer Art regionaler Selbstverwaltungskörper.«

Wie trickreich der EU-Rat bei der Aushebelung der nationalen Demokratien vorgeht, beweist ein Gutachten seines Juristischen Dienstes vom 22. Juni 2007: »Nach der Rechtssprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtssprechung des Gerichtshofs.« Damit steht, ohne dass es in den Lissabonner Verträgen aufgeführt ist, EU-Recht zwingend über dem Recht der Mitgliedstaaten. Die geltenden deutschen Gesetze zur Mitbestimmung oder künftige zum Mindestlohn könnten jederzeit von Brüssel außer Kraft gesetzt werden.

Der EU-Vertrag überträgt die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in die alleinige Zuständigkeit des EU-Rates. Dazu gehören weltweite Militärmissionen »zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen« – auch ohne UN-Mandat. Völlig unklar bleibt, was dies für die Zustimmungspflicht des Bundestags zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr bedeutet.

Krieg ohne Kontrolle
Aber bezahlen dürfen die Mitgliedstaaten: Sie werden aufgefordert, ihre »militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern« und mit ihren Steuergeldern die »Verteidigungsagentur« zu finanzieren, die dem EU-Rat angegliedert ist. Neu geschaffen wird ein Fonds, mit dem diese Agentur die »Sofortfinanzierung« einer Militärmission gewährleisten kann, falls aus den Mitgliedstaaten Einwände kommen. Unabhängig davon können einzelne Regierungen im Rahmen einer Ständig Strukturierten Zusammenarbeit auch ohne den Rest militärisch aktiv werden, sozusagen eine »Koalition der Willigen« bilden.

Beschließt der EU-Rat einen Krieg, gibt es dagegen kein Einspruchsrecht. Das EU-Parlament muss in Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik lediglich gehört werden, hat aber keine Vetomöglichkeit. Die Haushaltskontrolle, das wichtigste Privileg der Legislative, wird den Strasbourger Abgeordneten im Falle des Militärbudgets verweigert. Auch der Europäische Gerichtshof hat in Fragen von Krieg und Frieden keine Zuständigkeit.

Besonders Besorgnis erregend ist die Ankündigung, dass die EU »alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ... militärischen Mittel« einsetzen will, um im Falle von »etwaigen Terroranschlägen« einen Mitgliedstaat »innerhalb seines Hoheitsgebietes zu unterstützen«. Das bedeutet präventiven Militäreinsatz im Innern, garniert als brüderliche Hilfe.

Nein, nein und Nein,aber
Die Linksfraktion wird in der heutigen Bundestagssitzung die Lissabonner Verträge geschlossen ablehnen und darüberhinaus eine Volksabstimmung fordern. Weiterhin soll eine Verfassungsbeschwerde angestrengt werden.

Die Europäische Linke – der Dachverband entsprechender Parteien auf dem ganzen Kontinent – sagt ebenfalls Nein zu der sogenannten EU-Reform, will aber in dem Lissabonner Text »Verbesserungen gegenüber dem gültigen Vertrag von Nizza« entdeckt haben (vgl. ND vom Dienstag).

Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hat signalisiert, dass sich das Land Berlin bei der Bundesratsabstimmung über den EU-Vertrag am 23. Mai enthalten wird. Mit Spannung wird erwartet, ob die im Senat vertretene Linkspartei damit zufrieden ist.

EU und Todesstrafe

Von Befürwortern des EU-Reformvertrages wird immer wieder betont, dass doch immerhin die Garantie der Grundrechte in allen Mitgliedsländern ein epochaler Fortschritt sei.

Dass auch hier der Teufel im Detail lauert, zeigen die Bestimmungen über das wichtigste Grundrecht, jenes auf das Leben selbst. So heisst es auf der einen Seite in der Europäischen Charta der Menschenrechte aus dem Jahr 2000, die Teil des aktuellen Vertragswerks ist, in Artikel 2 Absatz 2 scheinbar eindeutig: »Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden.«

Doch andererseits wird die Charta an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) aus dem Jahr 1950 zurückgebunden, die Ausnahmeregelungen für die Todesstrafe, so genannte Negativdefinitionen, zulässt. Dazu heisst es im Amtsblatt der Europäischen Union vom 14. 12. 2007: »So müssen die in der EMRK enthaltenen ›Negativdefinitionen‹ auch als Teil der Charta betrachtet werden.« Das Amtsblatt zitiert den Artikel Artikel 2 Absatz 2 der EMRK ungekürzt, der diese »Negativdefinitionen« auflistet:

»Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern; c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.«

Die Abschaffung der Todesstrafe innerhalb der EU steht also unter Vorbehalt – bei »Aufruhr und Aufstand« beispielsweise darf auch exekutiert werden. Man muss sich allerdings auf eine Schnitzeljagd durch die juristischen Texte begeben, um dieser bösen Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Der Text aus dem EU-Amtsblatt findet sich unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do ...

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