Die Codeknacker von Bletchley Park
Durch Entschlüsselung von Nazi-Nachrichten halfen insgesamt 9000 Briten, den Zweiten Weltkrieg zu verkürzen
Der Bahnhof von Bletchley, 70 Kilometer nordwestlich Londons, hat das Flair von Templin, Torgau oder Tangermünde. Man ahnt, wie viel unauffälliger noch es hier vor 70 Jahren ausgesehen haben mag. Gerade seine Unauffälligkeit aber, zusammen mit seiner Nähe zu den Schaltstellen in London und den Universitätsstädten Oxford und Cambridge mit ihrem Angebot an klugen Köpfen, hat Bletchley so geeignet gemacht für die tragende Rolle, die die geheime Einrichtung hier spielen sollte: Abfangen, Entschlüsseln und Auswerten des Nachrichtenverkehrs der Nazis auf operativer und strategischer Ebene.
Bei Kriegsbeginn war die »Regierungscode- und Schlüsselschule« (GC & CS) auf das Gelände um das Herrenhaus von Bletchley Park gezogen. Im Januar 1940 stand die unscheinbare Einrichtung mit ihren Hütten und Schuppen im Umkreis der Herrenhausfront Gewehr bei Fuß. Auf dem Höhepunkt arbeiteten 9000 Nachrichtenexperten und Techniker, Sekretärinnen und Übersetzer – 3000 pro Schicht – rund um die Uhr auf dem Gelände. Es galt bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg als Britanniens bestgehütetes Geheimnis. Erst in den 70er Jahren erfuhr die Öffentlichkeit davon, dass es das Top-Secret-Lager der Nazicode-Knacker von Bletchley Park überhaupt gegeben hatte. Der Politthriller »Enigma« von Robert Harris und ein Spielfilm haben der Pioniertat der Wissenschaftler, Ingenieure und Mathematiker, der Kryptoanalytiker und Schreibkräfte – zwei von dreien waren Frauen – Denkmale gesetzt.
Voraussichtlich im Juli wird »The National Museum of Computing«, wie die Einrichtung heute heißt, offiziell eröffnet. Sein Gründer, Dr. Anthony E. Sale (73), der genau zwei Jahre vor Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 geboren wurde, ist Mathematiker, Ingenieur und einstiger Computertechniker beim britischen Inlandsgeheimdienst MI 5. Ohne ihn und seine Frau Margaret gäbe es das weiter im Aufbau befindliche, für historisch Interessierte absolut sehenswerte Museum nicht.
Tony Sale, ein lebhafter und liebenswürdiger Mann alter Schule, hat mit einigen Enthusiasten in 12 Jahren die Entzifferungsmaschine »Colossus« nachgebaut, deren sämtliche zehn Exemplare einst in Bletchley Park auf Befehl Winston Churchills zerstört worden sein sollen. Und er hat viele Zeitzeugnisse, Alltagsgegenstände und Kriegsunterlagen besorgt, ohne die ein solches Museum undenkbar ist.
Im ND-Gespräch lässt Sale einige der Entschlüsselungsleistungen lebendig werden. Sie haben nach Meinung von Historikern wesentlich dazu beigetragen, die Verluste der Antihitlerkoalition zu begrenzen, die Nazis schneller in die Knie zu zwingen und den Weltkrieg erheblich – Historiker sprechen von bis zu zwei Jahren – zu verkürzen.
Zu sehen in Bletchley Park ist eine genaue Nachbildung des Entschlüsselungsapparates »Bombe«, ein über zwei Meter breites und fast zwei Meter hohes Monstrum. Mit ihm gelang es nach vergeblichen Anläufen, geheime, meist kurze Nachrichten – Sale spricht von solchen mit etwa 200 Zeichen – über Truppenbewegungen der Nazis zu entschlüsseln, die über die berühmte deutsche Verschlüsselungsmaschine »Enigma« gelaufen waren. Nach Sales Worten darf deren Grundprinzip auch aus heutiger Sicht für den damaligen Kenntnisstand als »technisch nicht knackbar« gelten. »Wenn es Mathematikern wie Alan Turing und anderen schließlich glückte, so nur, weil menschliche Fehler – Nachlässigkeiten, aufschlussreiche Wiederholungen und Bequemlichkeiten – begangen wurden.« Bei Kriegsende waren es Sale zufolge »rund 3000-Enigma-Nachrichten pro Tag, die in Bletchley Park geknackt werden mussten.« Und konnten.
Zusammen mit der »Colossus«- Maschine, die ab 1. Juni 1944 – fünf Tage vor der Landung der Alliierten in der Normandie – einsatzbereit war, konnten schließlich auch die noch wichtigeren, »weil viel längeren, im Schnitt 10 000 Zeichen umfassenden Geheimnachrichten strategischen Charakters von Hitler an seine Generäle oder zwischen den Generälen entschlüsselt, auf Deutsch gelesen, ins Englische übersetzt und von unseren Militärs und Geheimdienstleuten bewertet werden.« Diese Meldungen liefen über den »Lorenz SZ«-Verschlüssler, eine verfeinerte Codierungsanlage. In »Colossus« fand sie ihren Meister.
Mit Hilfe von »Colossus« konnte die Flut deutscher Meldungen entschieden schneller geknackt und bewertet werden. Dauerte es davor Tony Sale zufolge sechs bis acht Wochen, die Nazi-Botschaften von Hand zu enträtseln, gelang das mit »Colossus«, einem der ersten programmierbaren digitalen Computer, in sechs bis acht Stunden. Dank »Colossus« lagen die deutschen Geheimnachrichten, die über die »Lorenz« abgesetzt wurden, »wie ein offenes Buch vor uns«. Für die Alliierten hatte dies bare Vorteile. Sale: »Mit Colossus konnten Briten und Amerikaner etwa prüfen, ob Hitler vor der Landung in der Normandie auf unser Ablenkungsmanöver im Südosten Englands reinfiel. Dort waren Truppenbewegungen inszeniert worden, um die Nazis glauben zu machen, die Landung auf dem Kontinent werde an der Straße von Dover stattfinden. Colossus zeigte, dass die Deutschen dies schluckten. Eisenhower und Montgomery wiederum bekamen so die Sicherheit, weiter auf die Normandie-Karte zu setzen.«
Die Versenkung deutscher Schlachtschiffe wie der »Scharnhorst« oder der »Bismarck« und manche weitere kriegsbeeinflussende Maßnahmen gingen auf die geduldige, im Einzelnen unspektakuläre Entschlüsselungsarbeit in Bletchley Park zurück. Stuart Milner-Barry, einer der ehemaligen Codeknacker, schrieb später: »Mit Ausnahme vielleicht der Antike wurde meines Wissens nie ein Krieg geführt, bei dem die eine Seite ständig die wichtigen Geheimmeldungen von Heer und Flotte des Gegners gelesen hat.«
Wesentlicher Grund, weshalb die »Colossus«-Maschinen nach dem Krieg zerstört wurden, war nach Sales Überzeugung der heraufziehende neue kalte Krieg. »Stalin wusste, dass wir ›Enigma‹, er wusste aber nicht, dass wir mit ›Colossus‹ auch die ›Lorenz‹ entschlüsseln konnten. In diesem Unwissen sollten die Russen bleiben.« Sale deutet an, dass offenbar zwei »Colossus« nach dem Krieg ins heutige britische Spionagezentrum GCHQ in Cheltenham gingen. Mit ihnen dürften die Briten versucht haben, sowjetische Geheimmeldungen zu dechiffrieren, die Moskau über die erbeuteten »Lorenz«-Apparate in der Annahme absetzte, sie seien – im Gegensatz zu Botschaften über »Enigma« – nach wie vor nicht zu knacken.
Der Geheimdienstler Sale bestätigt Letzteres nicht ausdrücklich, betont vielmehr, dass sein Mund in diesem Punkt noch heute versiegelt bleiben müsse. Doch Körpersprache und Kichern lassen wenig Zweifel, dass man eine Frage auch so bejahen kann.
Tony Sales Vater war Kriegskorrespondent für Reuters und wurde 1943 von Deutschen in Italien erschossen. Sale besuchte wiederholt die Bundesrepublik. Er nennt seine heutige Einstellung gegenüber Deutschland »neutral«. Er habe »viele Freunde« gefunden und halte die Gefahr eines neuen Faschismus in Deutschland für gebannt. So wenigstens erscheine es ihm »aus der Entfernung«.
Besonders stolz ist Sale, der zur Hoch-Zeit von Bletchley Park kaum Teenager war, dass es der deutschen Aufklärung bis Kriegsende nicht gelang, das Codeknacker-Camp zu unterwandern. »Ein einziger Luftangriff hätte Bletchley Park platt machen können. Doch die Naziführung wusste nichts und wollte wohl auch nicht glauben, dass ›Enigma‹ und ›Lorenz‹ enträtselt waren. Sie hielten sie – und sich – für unfehlbar. Gibt es einen schöneren Beweis dafür, dass Hochmut vor dem Fall kommt?«
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