»Der Kinderfreund« – geschrieben vom Kinderfreund

Friedrich Eberhard von Rochow ließ vor 230 Jahren in Reckahn eine Dorfschule bauen

  • Rosi Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Klassenzimmer des Reckahner Schulmuseums
Im Klassenzimmer des Reckahner Schulmuseums

Es ist Ferienzeit. Da sind Gedanken an Schule und Lernen bei Kindern und Eltern erst einmal weit weggeschoben. Doch was, wenn man sich auf sehr anregende und amüsante Weise mit dem Schulalltag beschäftigen kann, wenn man erleben kann, wie moderne Pädagogik vor über 200 Jahren auf dem flachen Brandenburger Land geboren wurde? Pestalozzi kennen die meisten. Fröbel sehr viele. Doch wer weiß etwas über Friedrich Eberhard von Rochow und seine bahnbrechende Bildungsinitiative?

In Reckahn und angrenzenden Dörfern im Havelland bestimmte fast 900 Jahre lang die Familie von Rochow Leben und Arbeit. Das berühmteste Familienmitglied aber, der in dem in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts erbauten barocken Schloss herrschte, war jener Friedrich Eberhard (1734 bis 1805). Er öffnete sich der Aufklärungsphilosophie, war ein bedeutender Agrarreformer und Ökonom, aber vor allem ein Pädagoge, dessen Neuerung über die Jahrhunderte hinaus wirkte. Im rekonstruierten Schloss gibt das 2001 eröffnete Rochow-Museum darüber Auskunft. Der Toleranzgedanke prägte ihn. Alle Menschen hätten das Recht, so sagte er, ein vernünftiges Leben zu leben. So war sein Motto – heute auch Titel der Rochow-Ausstellung – »Vernunft fürs Volk«. Denn er empfand: »Die Wahrheit ist eine göttliche Kraft.«

Ebendiese Erkenntnisse machten ihn zum Bildungsreformer. Er erlebte das Hemmnis der Unkenntnis täglich bei seinen Gutsarbeitern. Er brauchte aber über praktisches Wissen verfügende Untertanen, die s e i n gutes Auskommen und letztlich auch das ihre sicherten. Denn von Rochow forschte auch auf seinem Gut. Er betrieb Seidenraupenzucht und Obstbaumzucht in großem Stil, experimentierte mit verschiedenen Apfelsorten. Er entwickelte aus Kichererbsen einen Kaffeeersatz, der »für den Geruch echten Kaffees« ausgezeichnet wurde. Es war ökonomisches Denken, aber zugleich philanthropisches Fühlen, das ihn bewog, 1773 eine Dorfschule bauen zu lassen. Sie diente über alle Zeiten bis zur Wende als Bildungsstätte und beherbergt seit 1992 das Reckahner Schulmuseum.

Diese Schule – welch eine Neuerung in einem so rückständigen Land wie Preußen, in dem nicht einmal fünf Prozent der Menschen lesen und schreiben konnten! Fortan gingen Jungen und Mädchen der Gutsdörfer gemeinsam in die Schule mit zwei Klassenzimmern, die durch große Fenster viel Licht herein ließen, unglaublich für die damalige Zeit. Und die Eltern mussten kein Schulgeld zahlen.

Von Rochow stellte auch einen engagierten Lehrer ein, Heinrich Julius Bruns. Der erhielt eine eigene Wohnung und 180 Reichsthaler Salär im Jahr. Und nach seinem Tode setzte ihm von Rochow aus Dankbarkeit ein Denkmal im Schlosspark.

Diese Schule wurde zum Muster aller Volksschulen, sie war im 19. Jahrhundert Vorbild für die zweiklassigen Landschulen in Preußen. Das Potsdamer Waisenhaus wurde nach Reckahner Erkenntnissen reformiert. Eines der wichtigsten Prinzipien der Rochowschen Schule war, alle Sinne zu fördern, Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen mit praktischer Erkenntnis zu verbinden. So wurde zum Beispiel auch Obstbaumzucht gelehrt, berichtet Museumsleiterin Silke Siebrecht. Die studierte Museumsleiterin ist begeistert vom Reckahner Bildungszentrum: »Ich habe hier viel Herzblut gelassen.«

Von Rochow schuf auch das erste Schullesebuch für die Dorfkinder – »Der Kinderfreund«. 1776 erschien das erste Buch für die Lernanfänger mit unterhaltsamen, dem täglichen Leben entnommenen Geschichten, so (eben) über Apfelkerne, die man, statt sie zu essen, lieber in die Erde stecken sollte, weil daraus Apfelbäume wachsen. Das zweite Buch, erschienen 1779, machte die Größeren mit den Naturwissenschaften vertraut. »Der Kinderfreund« wurde Millionenmal vervielfältigt, weit über deutsche Grenzen bekannt und in viele Sprachen übersetzt. Bildungsbeflissene pilgerten in das kleine Dörfchen, um die neue Schule, ihren Gründer und ihren Lehrer zu erleben. Das erhaltene und im Museum ausgestellte Besucherbuch beweist bis Ende des 18. Jahrhunderts bereits 1200 Besucher.

Im Schulmuseum ist heute ein Originalklassenzimmer aus der Zeit um 1915 zu sehen, in dem historische Unterrichtsstunden und Schreibübungen stattfinden. Der Rohrstock findet hier keine Verwendung. Zugleich bietet das Rochow-Museum thematische Führungen für Schüler, Studenten und Pädagogen. Und dem »Alle Sinne fördern« entsprechend können in der Rochow-Grotte von Kindern und Eltern Papier geschöpft und Tonarbeiten gefertigt werden. Zudem empfiehlt Siebrecht im Museum ein virtuelles Denklernzimmer.

Ob seiner bildungspolitischen Bedeutung wurde das beeindruckende Reckahner Ensemble von Schloss, Kirche, Dorfschule und rekonstruiertem Gutspark ins Blaubuch »kultureller Gedächtnis-orte mit besonderer nationaler Bedeutung« aufgenommen.

www.rochow-museum.de

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