Armut der Sprache oder Sprache der Armut?

In einem Brandenburger Modellprojekt werden sprachauffällige Kinder in der Kita gefördert

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.
Seit Veröffentlichung der PISA-Studie überbieten deutsche Erziehungswissenschaftler sich gleichsam mit Vorschlägen, wie das hiesige Schulsystem effektiv zu reformieren sei. Leider wird dabei oft übersehen, dass Bildung bereits im Vorschulalter beginnt und dass es mithin sinnvoll ist, etwa sprachauffällige Kinder so früh wie möglich zu fördern.
Nach einem Bericht des Brandenburger Ministeriums für Soziales, Frauen und Gesundheit werden derzeit immer mehr Jungen und Mädchen eingeschult, die nicht über die notwendigen sprachlichen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Schulstart verfügen. So hatten rund neun Prozent der Schulanfänger des Jahres 1998 »Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen«. Was dieser Durchschnittswert allerdings verbirgt, ist die Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl der sprachauffälligen Kinder aus sozial benachteiligten Familien stammt. Erst jüngst wurden in der strukturschwachen Region um Bad Freienwalde im Landkreis Märkisch-Oderland bei 17 Prozent der ABC-Schützen Sprachdefizite festgestellt. Auch das Forum Bildung der Bund-Länder-Kommission kam am 19. November letzten Jahres zu dem Schluss: »Der Zugang zu Bildung und der Erwerb von Bildung werden immer noch in starkem Maße von der sozialen, ethnischen und finanziellen Situation von Familien beeinflusst. Benachteiligungen - etwa beim Spracherwerb, beim Lesen, Schreiben und Rechnen - die in der Kindertageseinrichtung und der Grundschule noch leicht behoben werden könnten, setzen sich oft fort und führen später zu Schulversagen und Ausbildungslosigkeit.« Neu ist diese Erkenntnis sicherlich nicht - im Gegensatz zu einigen empirischen Studien, die zeigen, wie Sprachstörungen bei Kindern sich bereits im Vorschulalter erfolgreich beseitigen lassen. Im Sommer 2000 wurde im Land Brandenburg das Modellprojekt »Sprechverhalten und Sprachförderung in der Kita« gestartet, an dem 21 speziell ausgebildete Erzieherinnen aus 20 Kitas und 139 Kinder teilnahmen. Die wissenschaftliche Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Arbeit besorgten Detlef Häuser von der Erziehungs- und Familienberatungsstelle des Landkreises Märkisch-Oderland sowie Bernd-Rüdiger Jülisch vom Lehrbereich Pädagogische Psychologie des Instituts für Psychologie der Humboldt-Universität. Am Anfang des Projekts stand eine genaue Diagnostik, derzufolge von den 139 Kindern 79 (das sind 56,8 Prozent) nicht in der Lage waren, Sprache korrekt zu gebrauchen. Davon wiederum offenbarten 38 Kinder (27,3 Prozent der Gesamtgruppe) deutliche sowie 17 Kinder (12,2 Prozent der Gesamtgruppe) gravierende Sprachentwicklungsstörungen. Diese erkennt man gewöhnlich an einem geringen Wortschatz, großen Wortfindungsschwierigkeiten, einer verwaschenen Aussprache sowie Grammatikfehlern. »In einer großen Kita-Gruppe bleiben diese Schwächen weithin bestehen, zumal sprachauffällige Kinder sich häufig Kommunikationspartner suchen, deren Entwicklungsniveau dem ihren gleicht«, betonen Häuser und Jülisch. Deshalb könne, wie im Modellprojekt gezeigt, eine wirkungsvolle Sprachförderung nur in kleinen Gruppen erfolgen. Nur dort hätten die betroffenen Kinder keine Hemmungen, sich an Gesprächen frei und ungezwungen zu beteiligen. »Unsere sprachauffälligen Kinder kamen mit Freude zur Förderung, obwohl sie teilweise auf das Spiel verzichten und sich einer zusätzlichen Lernphase unterziehen mussten«, heißt es im Erfahrungsbericht dreier Erzieherinnen. Am Schluss zählen natürlich die Ergebnisse, und die sind vielversprechend: Nach einer dreimonatigen intensiven Förderung, die pro Tag etwa 15 bis 25 Minuten in Anspruch nahm, sank die Zahl der mäßig sprachauffälligen Kinder von 27,3 auf 9,9 Prozent und die der stark auffälligen Kids von 12,2 auf 3,6 Prozent. Dass Kinder so positiv auf die Förderung reagieren, kann als greifbarer Beleg dafür gelten, dass Unterschiede in den frühen Sprachfertigkeiten zum großen Teil soziale Ursache haben. »Psychosoziale Risikofaktoren wie ein niedriger Sozialstatus der Familie, geringe schulische und berufliche Qualifikation der Eltern und anhaltende familiäre Stressfaktoren wie Partnerschaftskonflikte, Arbeitslosigkeit oder Armut behindern nachhaltig die Sprachentwicklung eines Kindes«, resümieren Häuser und Jülisch, die sich darin von den Ergebnissen der PISA-Studie bestätigt sehen. Denn danach hängt in Deutschland, stärker als in jedem anderen Land, das Niveau der erreichten Lesefähigkeit eines Schülers maßgeblich von dessen sozialer Herkunft ab. Es erscheint daher dringend geboten, sprachauffällige Kinder aus sozial schwachen Familien frühzeitig zu fördern, um die grundgesetzlich verbriefte Chancengleichheit aller Menschen nicht zur Worthülse verkommen zu lassen. Zuvor freilich muss noch eine Frage beantwortet werden: Was sind die wichtigsten Aufgaben und Funktionen einer Kita? Sollen Kinder dort nur aufbewahrt und betreut oder sollen sie dort auch erzogen, gar gebildet werden? Man mag über die Vorschulpädagogik der DDR heute geteilter Meinung sein, auch wenn es sicher ungerechtfertigt ist, sie pauschal als »dirigistisch« abzuqualifizieren, wie dies einige westdeutsche Erziehungswissenschaftler tun. Unbestreitbar bleibt: In der DDR hatten die Kindergärten einen klaren Bildungsauftrag - mit dem Ergebnis, dass es dort kaum sozial geprägte Unterschiede in den Sprachfertigkeiten der ABC-Schützen gab. Denn viele Erzieherinnen und Erzieher übernahmen oft freiwillig die Förderung sprachauffälliger Kinder, sofern die Eltern zu Hause dies nicht leisten konnten. »Die Kita sollte wieder ein Ort sein«, betont Häuser, »wo der individuelle Anspruch aller, auch der sozial benachteiligten Kinder auf Entwicklung und Förderung realisiert wird.« Doch selbst nach den schockierenden Ergebnissen der PISA-Studie verschließen die meisten Politiker sich solchen Vorschlägen. In Brandenburg etwa sind seit der Novellierung des Kitagesetzes die Rahmenbedingungen für eine umfassende Sprachförderung erkennbar schlechter geworden. Offenbar trösten sich noch immer viele Menschen hier zu Lande mit der irrigen Vorstellung, dass sprachliche Entwicklungsstörungen bei Kindern sich auch ohne spezielle Förderung mit den Jahren »auswachsen«.

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