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»Pitti«, der Inder von der Elbe
Ein Obsthändler, der aus dem indischen Patiala stammt, hat in Magdeburg eine zweite Heimat gefunden: Er liebt seine Kunden und ist bei ihnen überaus beliebt
Aus einem Wattebausch dreht Parveen Kumar einen Docht, steckt ihn in ein Töpfchen mit Butterfett und zündet ihn an. Jetzt hebt er die aneinandergelegten Hände vors Gesicht, schließt die Augen und richtet ein stilles Gebt an seine Hindu-Götter. Er bittet sie um einen erfolgreichen Tag und um Gesundheit für sich und seine Kunden. Dann streicht er mit den Fingern über die »heilige Flamme« und berührt mit den so »gesegneten« Händen jede der auf einem Wandbrett stehenden Götterfiguren, darunter auch Buddhastatuen und sogar ein christlicher Engel.
Einmal am Morgen, kurz nach Eröffnung seines Obst- und Gemüsegeschäftes in der Olvenstedter Straße in Magdeburg, und einmal kurz vor Ladenschluss zelebriert Parveen Kumar dieses Ritual, wie es zu Hause in Indien in vielen Familien üblich ist. Allerdings fehlt hier ein wesentlicher Bestandteil – die Räucherkerzen. »Nein«, erklärt Parveen Kumar, »die verbreiten im Laden einen zu intensiven Geruch. Das mögen viele Kunden nicht. Wenn man sich integrieren will, muss man das berücksichtigen. Trotz dieses kleinen Mankos büße ich doch von meiner hinduistischen Identität nichts ein.«
Mit französischem Charme
Der 39-Jährige stammt aus Patiala, einer Stadt mit gut 300 000 Einwohnern im westindischen Unionsstaat Punjab. Die Liebe hat ihn auf Umwegen in die Stadt an der Elbe verschlagen. 1994 ging er als Student nach Frankreich, ein paar Jahre später lernte er dort Grit kennen, seine heutige Frau. Sie war als Touristin in Paris aufgekreuzt. Es funkte zwischen den beiden. Damals noch Studentin der Sprachwissenschaften in Magdeburg und gegenwärtig an ihrer Doktorarbeit schreibend, lernte sie extra Französisch, um sich mit ihm unterhalten zu können. 1999 heirateten sie in Paris. Danach kehrte er nach Indien zurück, lernte ein bisschen Deutsch und wartete auf das Einreisevisum.
2001 kam Parveen Kumar nach Deutschland. Obwohl ihm der Job als Hausmeister in einem Ingenieurbüro gefiel, riet ihm Schwiegervater Dieter Rehfeld zur Selbstständigkeit, denn er hatte erkannt, dass dem Schwiegersohn »Handel und Wandel im Blut lagen«. Im Gespräch mutmaßt er: »So etwas wird den Indern wohl in die Wiege gelegt.«
Der Tipp war jedenfalls gut: Punjabischer Geschäftssinn und Unternehmergeist, französischer Charme und deutsche Gründlichkeit, Ordnung und Sauberkeit, ergaben eine ideale Mischung. »Parveen, der kann verkaufen«, sagt sein Schwiegervater anerkennend.
Verkaufen ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Auf den Umgang mit den Kunden kommt es an. Und die sind – ob Mann oder Frau, Kind oder Rentner, Einheimischer oder ausländischer Mitbürger und egal welcher politischer Couleur – voll des Lobes.
Ein paar Kostproben? »Es gibt das Klischee vom Kunden als König. Bei Obst-Kumar trifft der Spruch hundertprozentig zu.« – »Ich nenne ihn immer Pittiplatsch, den Lieben, weil er so spaßig, nett und voller Liebenswürdigkeit ist.« – »Unseren Kumar kann keiner an Freundlichkeit übertreffen.« Oder: »Er strahlt so viel Lebensfreude aus. Das steckt einfach an. Das hier ist ein ungewöhnlicher Laden. Den Supermarkt als Ziel, denke ich immer, ach, heute muss ich einkaufen. Komme ich dagegen zu Kumar, freue ich mich auf ein paar angenehme Minuten.« – »Kumars Geschäft kann man nur mit guter Laune verlassen. Seine Freundlichkeit springt über.«
Schwiegervater Dieter fasst zusammen: »Parveen ist höflich und bescheiden, fleißig und hilfsbereit und ein fast immer lustiger Typ.« Und er verrät, zwischen seiner Tochter, die im Rollstuhl sitzt und seit dem siebten Lebensjahr an einer Knochen- und Schilddrüsenerkrankung leidet, und dem Schwiegersohn sei in fast zehn Jahren Ehe noch nie ein lautes Wort gefallen.
»Guten Tag, Madam. Wie geht es Ihnen? Guten Tag, Sir. Kann ich Ihnen helfen? Was wünschen Sie?« So lauten die mit umwerfender Liebenswürdigkeit vorgebrachten Standardbegrüßungen. Und während die Kundschaft ihre Wünsche äußert, eilt »Pitti« geschäftig hin und her, berät, wählt aus, wiegt ab und packt ein, bietet Kostproben exotischer Früchte an, empfiehlt seine frischen Obst- und Gemüsesalate, die »alle mit Liebe zubereitet sind«.
Zum Service gehören auch mal ein Bonbon, ein Stück Melone oder Pfirsich, eine Banane oder eine Tasse mit Milch und Zucker, Ingwer und Kardamom gekochten Schwarzen Tees, auf dessen medizinische Wirkung bei Halsweh und Erkältungen auch gleich noch verwiesen wird. Die Kundschaft ist begeistert.
»Man kann nicht nur immer ans Geld denken«, kommentiert Parveen Kumar seine Verkaufsphilosophie und ergänzt: »Klauen muss bei mir niemand, denn ich sehe, wer bedürftig ist. Da gibt’s auch schon mal was umsonst.«
Nebenberuflich Sozialhelfer
Eine 81-jährige Stammkundin beschenkt ihn jeden Sonnabend mit einem Frühstück. Als sie eines Tages ausblieb, suchte Parveen Kumar nach Ladenschluss die Familie auf, weil er glaubte, irgendetwas stimme nicht. Tatsächlich, am Vortag war die Frau in der Küche gestürzt und hatte sich schwere Kopfverletzungen zugezogen. Ihr fast blinder Mann konnte ihr nicht helfen. Parveen Kumar rief einen Krankenwagen, der die Rentnerin ins Krankenhaus brachte. Am Sonntag, seinem einzigen freien Tag, kaufte »Pitti« Blumen, fuhr mit seinem Auto zu dem Ehemann und nahm ihn mit zum Besuch seiner Frau ins Krankenhaus. »Sie sind ja eine richtige soziale Einrichtung«, staunte eine Kundin, als sie diese Geschichte hörte.
Einer anderen Kundin, die dringend einen Termin bei einer Au-genärztin brauchte, aber auf eine lange Warteliste geriet, arrangierte er einen schnellen Termin bei einer Ärztin, die ebenfalls Kundin bei ihm ist. Viele seiner Käufer kennt der »Inder von der Elbe« ganz genau. Er weiß, wo sie arbeiten, wie groß die Familie ist, was sie sich leisten können und vorwiegend kaufen. Das sorgt für fließende Konversation und manchen Ulk. Kein Wunder, dass »Obst-Kumars« Laden auch als Nachrichtenbörse und Kommunikationszentrum gilt.
Taucht zum Beispiel der einstige Eisenbahner auf, der bei jedem Wetter seine abgewetzte Dienstmütze trägt und im Rollstuhl vorfährt, eilt Parveen Kumar sofort nach draußen, plauscht erst ein paar Minuten mit ihm, nimmt dann die Bestellung entgegen und erledigt sie flugs.
Vor ein paar Monaten war Parveen Kumars jüngerer Bruder Manoj Wadhwa aus Patiala zu Besuch. Beider Heimatstadt wurde in Indien berühmt durch die Eskapaden eines Maharadschas, der nicht nur ein leidenschaftlicher Sportfan war, sondern noch während der Kolonialzeit auch über einen Harem mit vielen Konkubinen verfügte. Er begeisterte sich oft an dem Anblick, wenn zu nächtlicher Stunde Mädchen mit brennenden Kerzen auf den Bauchnabeln durch ein Schwimmbecken glitten.
In Patiala, mit mehr als einem Dutzend Universitäten und Colleges eine der bildungsträchtigsten Städte Indiens, befindet sich auch das Nationale Sportinstitut »Subhash Chandra Bose«. Hier bereiten sich die indischen Athleten auf die Commonwealth-Spiele 2010 in Delhi vor. Aus Patiala kommt Rakesh Sharma, der erste Inder, der Mitte der 80er Jahre an Bord eines sowjetischen Raumschiffs im All war. Aus Patiala stammen auch etliche Bollywood-Stars, Kricket- und Hockeyasse.
Entwicklungshelfer für den Bruder in Indien
Doch zurück zu Manoj Wadhwa. Er führt in Patiala einen Gemischtwarenladen und lebte davon bislang recht und schlecht. Nun sah er in Magdeburg das florierende Geschäft seines Bruders, beobachtete ihn bei der Arbeit und hörte sich dessen Ratschläge an. Der Entschluss stand fest: Er wollte »Kumars Laden« in Patiala kopieren, auf Obst und Gemüse bester Qualität umsteigen, sein eigenes Geschäft auf deutschen Standard umrüsten und eine völlig neue Verkaufskultur einführen.
Und die Idee zündete zu Hause. Schnell sprach sich das Novum in der Stadt herum. »Manojs Umsatz stieg um 70 Prozent. Er hat auch sonntags geöffnet. Wenn ich anrufe, hat er meistens gar keine Zeit, mal mit mir etwas länger zu schwatzen«, sagt »Pitti« nicht ohne Stolz auf sein gutes Beispiel. Fast möchte man es als eine Art kostenloser Entwicklungshilfe bezeichnen.
Nach ein paar Tagen Beobachtung in Parveen Kumars Geschäft, nach einer Fahrt mit ihm zum Großmarkt in Leipzig, wo er jeden Montag nach gewissenhaftem Prüfen, Beschnuppern, Betasten und Verkosten nur hochwertiges Obst und Gemüse einkauft und wo er von einigen Großhändlern sogar mit einem freundlichen »Namaste« (Guten Tag in Hindi) begrüßt wird, drängt sich die Erkenntnis auf: Dieser Ausländer ist akzeptiert, ist integriert, fühlt sich zu Hause, hat in Magdeburg eine zweite Heimat gefunden, liebt seine Kunden und ist bei ihnen beliebt. Wäre das nicht so, könnte es nicht zu einem solchen Dialog mit einer Kundin kommen: »Guten Tag, Madam. Sie wünschen?« – »Zwei Zwiebeln bitte. Wir fahren in Urlaub an die Ostsee und ich will Klopse für unterwegs machen.« – »An die Ostsee, zum FKK?« – »Hm.« – »Da schlage ich Ihnen ein Geschäft vor: Sie bekommen die beiden Zwiebeln umsonst und schicken mir dafür zwei Fotos vom FKK.« – »Gut«, geht die Kundin lachend auf den Deal ein, »ich werd’s mir überlegen.«
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