Migrantenkinder ohne Gutschein

Fünf Jahren nach dem Systemwechsel in der Kinderbetreuung fällt die Bilanz in Hamburg kritisch aus

  • Sandra Clemens
  • Lesedauer: 3 Min.
Das Hamburgische Kita-Gutscheinsystem feiert in diesem Jahr sein fünfjähriges Jubiläum. Auf einer Fachtagung zogen kürzlich über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Praxis, Politik und Wissenschaft Bilanz.

Mit der Umstellung auf eine Gutscheinvergabe für Kita-Plätze vollzog sich vor Jahren in Hamburg ein radikaler Wechsel in der Kindertagesbetreuung von der zentralen Steuerung durch die Stadt zum Angebot- und Nachfrage-Prinzip durch Gutscheine. Eltern wurden zu Kunden, Kitas zu Dienstleistern.

Die Kita-Träger bewerteten das Gutscheinsystem positiv, was den Steuerungseffekt und die Qualität der Kitas betrifft. Dietrich Wersich (CDU), Senator für Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz, blickt zurück: »Damals mussten Eltern lange Wartezeiten und Anfahrtswege in Kauf nehmen. Jetzt sind sie mit Nachfragemacht ausgestattet und können ihre Kita frei wählen.« Durch die Gutscheine sei die Vergabe passgenauer, da die Kitas ihr Angebot nach den Bedürfnissen der Eltern in Hinblick auf Betreuungszeiten, Konzept und Wohnortnähe richten. Durch die Marktkonkurrenz seien die Kitas gezwungen, ihre Qualität ständig zu verbessern. Dietrich Wersich findet: »Die Kitas sind deutlich selbstbewusster geworden.«

Professor Dr. Petra Strehmel vom Forschungsprojekt Kita-Gutscheinsystem warnte allerdings vor Euphorie und sprach von einer »Scherenentwicklung« in der Stadt. So wiesen die sozial schwächeren Stadtteile einen erheblich geringeren Versorgungsgrad auf. In den Kitas, die hauptsächlich Kinder von Mindestbeitragzahlern betreuen, gebe es nur selten Kleingruppenarbeit. Viele Teilnehmerinnen bemängelten die Bewilligungskriterien für einen Kita-Platz. Im Vordergrund stehe die Berufstätigkeit der Eltern. Wiltrud Wolter, Kita-Leiterin aus Steilshoop, kritisierte die schwierige Situation von Familien mit Migrationshintergrund. Deren Mütter seien oft nicht erwerbstätig, aber gerade die Hausaufgabenbetreuung sei schwierig. Die Kita-Leiterin sagt: »Hier ist das Kindswohl nicht akut gefährdet, wohl aber die Integration.« Mütter aus Migrantenfamilien müssten mindestens einen 20-stündigen Sprachkurs nachweisen, um einen Gutschein zu bekommen. Ist der Kurs nach drei bis vier Monaten vorbei, verfällt der Anspruch und das Kind verlässt die Kita oder den Hort. So könne man den Kindern kein stabiles Umfeld bieten, meint Wiltrud Wolter. Außerdem wüssten diese Familien oft nicht, welchen Anspruch sie haben oder seien mit dem Antragsformular für einen Kita-Gutschein überfordert. Für Kersten Artus, frauenpolitische Sprecherin der LINKEN in der Hamburgischen Bürgerschaft, hat sich das Kita-Gutscheinsystem nicht bewährt, »weil es sozial schwache Familien und ihre Kinder benachteiligt. Kinder von Erwerbslosen und Migrantenfamilien müssen Ganztagsplätze in Kitas bekommen.«

Elimar Sturmhoebel vom Alternativen Wohlfahrtsverband e. V. kritisierte den Anstieg der Teilzeitjobs und Zeitarbeitskräfte in Kitas. Aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen sei zu befürchten, dass diese Arbeitsplätze zunehmend unattraktiv für den beruflichen Nachwuchs werden. Senator Dietrich Wersich bilanzierte dennoch positiv. Das Gutscheinsystem sei ein wachsendes System, sagte er. Hamburg will den gesetzlichen Anspruch auf die Kitabetreuung auf alle Zweijährigen ausweiten und ab 2009 das letzte Vorschuljahr gebührenfrei anbieten. In den vergangenen sechs Jahren stiegen in der Stadt die Ausgaben für die Kinderbetreuung von 287 auf 410 Millionen Euro, die Zahl der betreuten Kinder erhöhte sich von 50 000 auf 62 000.

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