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»Niemand darf wegen Sorgearbeit benachteiligt werden«

Jo Lücke über die neue Liga für unbezahlte Arbeit und darüber, warum sie politische Streiks auf die Agenda setzen will.

  • Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Gewerkschaft Verdi kämpft für bessere Bezahlung etwa in Pflegeberufen. Eine neue Initiative will sich auch für unbezahlte Sorgearbeitende einsetzen.
Die Gewerkschaft Verdi kämpft für bessere Bezahlung etwa in Pflegeberufen. Eine neue Initiative will sich auch für unbezahlte Sorgearbeitende einsetzen.

Sie haben Anfang Mai eine »Gewerkschaft für Sorgearbeit« gegründet. Was hat Sie dazu bewogen?

Ich bin seit sechs Jahren im Bereich Gleichstellung aktiv und habe mich intensiv mit dem Thema Sorgearbeit beschäftigt, auch weil ich selbst zwei Kinder habe. Meine Auseinandersetzung hat mir gezeigt, dass individuelle Lösungen oder Versuche, eine bessere Arbeitsteilung in der eigenen Familie zu finden, sehr begrenzt sind – etwa durch die mangelhafte Kita-Infrastruktur oder den Gender-Pay-Gap, der dazu führt, dass Frauen immer noch weniger verdienen als Männer. Bislang existiert keine übergreifende Organisation, zu der sich alle eingeladen fühlen, auch weil es kein übergeordnetes Ziel gab. Das braucht es aber, weil viele strukturelle Probleme zusammenkommen, die für Sorgearbeitende die Gleichstellung erschweren.

Was meinen Sie damit?

Viele Sorgearbeitende können nicht Vollzeit arbeiten, was auch an der mangelnden Kita- oder Pflegeinfrastruktur liegt. Sie haben dadurch ein geringeres Einkommen und später weniger Rente. Es gibt ein paar halbherzige Versuche, Sorgezeiten auszugleichen, wie Pflegezeiten oder Rentenpunkte. Aber das geht völlig an der Realität vorbei, was es bedeutet, sich 15 Jahre und mehr um Kinder oder um kranke Eltern zu kümmern. Vereinbarkeit auch mit politischer Teilhabe ist ein Thema. Wenn jemand 40 Stunden arbeitet und ein Kind hat oder jemanden pflegt, bleibt am Ende des Tages nicht mehr viel Zeit übrig für Dinge wie politische Arbeit oder die eigenen Interessen.

Wie wollen Sie das ändern?

Unser Ziel ist es, die familiäre Fürsorgeverantwortung als weiteres Diskriminierungsmerkmal neben Herkunft, Religion und Behinderungen in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes aufzunehmen.

Familiäre Fürsorgeverantwortung – und was ist mit Freundschaften?

Die sollen auch darunter fallen. Wir sagen ganz klar: Familie ist nicht nur dort, wo Ehe ist. Wir wollen, dass das Benachteiligungsverbot zum Beispiel auch für den Patenonkel gilt, der sich regelmäßig um das Patenkind kümmert. Die familiären Beziehungen, die wir im Grundgesetz festhalten wollen, müssen nicht mit einer Blutsverwandtschaft oder einem Ehevertrag zu tun haben.

Und was soll eine Grundgesetzänderung bringen?

Das wäre eine Art Mantel-Tarifvertrag, der die Grundlage für weitere gesetzliche Regelungen schaffen würde. Da könnte man über eine reduzierte Normalarbeitszeit reden, damit die Chancengleichheit hergestellt wird. Die Infrastruktur müsste ausgebaut werden: bessere und mehr Kitaplätze, Entlastung für Pflegende. Es gäbe auch größeren Druck, Teilhabe zu ermöglichen. Bisher ist es im politischen Bereich oft so, dass Kinderbetreuung bei Veranstaltungen eine Bonusoption ist, Pflegende werden gar nicht erst mitgedacht. Die Grundgesetzänderung kann dazu beitragen, dass das stärker institutionalisiert wird. Und es könnte Auswirkungen haben auf die Stadtplanung, etwa wenn es um Verkehrswege geht. Einige dieser Forderungen gibt es schon lange. Wir sagen: Es braucht den grundsätzlichen gesellschaftlichen Konsens, dass niemand wegen Sorgearbeit benachteiligt werden darf. Alles Weitere wird dann wesentlich einfacher.

Interview


Jo Lücke gründete Anfang Mai zusammen mit Franzi Helms die Liga für unbezahlte Arbeit, eine »Gewerkschaft für Sorgearbeit«. Zuvor studierte sie Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften in Mannheim und Baltimore. Die Autorin und politische Bildnerin lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Wie planen Sie, diesen Konsens herzustellen?

Die Liga für unbezahlte Arbeit soll eine professionelle Vertretung der Sorgearbeitenden werden. Unser Ziel ist es, eine mitgliederstarke Organisation aufzubauen und mit den Beiträgen eine Geschäftsstelle zu finanzieren, um langfristig am Ball zu bleiben. Für eine Grundgesetzänderung braucht man einen langen Atem. Wir rechnen mit zehn bis 15 Jahren, bis die Mehrheiten dafür da sind – sowohl gesellschaftlich als auch politisch.

Warum eigentlich nicht Liga gegen unbezahlte Arbeit?

Wir sind nicht gegen unbezahlte Arbeit, sondern dafür, dass niemand wegen Fürsorgeverantwortung benachteiligt werden darf. Sorgearbeitende sollen keine Diskriminierung erfahren und vor allem auch sozial abgesichert sein. Es soll eine Wertschätzung und Anerkennung geben, die sich nicht darin erschöpft, zum Muttertag einen Blumenstrauß zu bekommen. Es wäre aus meiner Sicht ein großer Fehler, Sorgearbeit in Kategorien von Erwerbsarbeit zu denken. Zum Beispiel, wenn man festlegen würde, wie viel Tröstzeit ein Kind in der Nacht braucht, wenn es wegen Fiebers aufwacht oder einen schlechten Traum hatte, um daran die Vergütung zu bemessen. Das ist absurd. Unser Ziel ist es, Wege zu finden, Nachteile abzubauen – nicht unbezahlte Arbeit abzuschaffen.

Materialistische Feministinnen forderten unter dem Motto »Sie nennen es Liebe, wir nennen es Arbeit«, dass reproduktive Tätigkeiten als Arbeit eingepreist werden. Ist das nicht ein Widerspruch zu Ihrem Ansatz?

Nein, die Einpreisung sollte man auf jeden Fall in Betracht ziehen. Es gibt eine Studie, wonach jährlich 117 Milliarden Stunden Sorgearbeit geleistet werden, im Vergleich zu 60,6 Milliarden Stunden Erwerbsarbeit. Wenn man diese unbezahlte Arbeit mit einem Durchschnittslohn bezahlen würde, käme man auf eine Summe von 1,2 Billionen Euro, also mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Diese Kosten werden aktuell als inoffizielle Subvention privat getragen. Wir wollen darüber sprechen, wie wir sie gerechter verteilen können. Unser Wunsch ist es, Sorgearbeit mit der gleichen Relevanz wie Erwerbsarbeit zu behandeln, um dann zu Lösungen zu finden, die nachhaltig sind und von denen schlussendlich alle profitieren.

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Wie Gewerkschaften wollen auch Sie eine Mitgliederbasis aufbauen. Was haben die Mitglieder davon?

Wir wollen eine Rechtsberatung schaffen, selbst Prozesse anstreben und Menschen unterstützen, die gewillt sind, Fragen zu stellen, die so noch niemand gestellt hat. Wir wollen Menschen miteinander verbinden, haben ein Bildungsangebot mit Vorträgen und Workshops rund um die Themen Sorgearbeit für Eltern oder für pflegende Angehörige. Das Ziel ist, diese Struktur so weit aufzubauen, dass wir einer Gewerkschaft immer ähnlicher werden. Um uns allerdings offiziell Gewerkschaft nennen zu dürfen, müsste der Arbeitsbegriff erweitert werden. Nach aktueller Rechtslage ist eine Gewerkschaftsgründung nur für abhängig Beschäftigte mit Vertrag und Lohn vorgesehen.

Es gab Konzepte für Reproduktionsstreiks, Gebärstreiks, heute ist die Rede von feministischen Streiks. Werden Sie zu Ausständen aufrufen?

Nach aktueller Auslegung des Streikrechts in Deutschland haben Sorgearbeitende nicht das Recht, ihre Arbeit niederzulegen – egal welche. Das darf nur eine Gewerkschaft, die tariffähig ist, also die Tarifverträge abschließen darf. Darum haben wir das Ziel, das Thema des politischen Streiks auf die Agenda zu setzen, der in Deutschland als nicht erlaubt gilt. Es gibt seit einigen Jahren Stimmen, die sagen, diese Auslegung sei längst überholt. Der Europäische Gerichtshof würde dieses politische Streikrecht vermutlich zugestehen. Wir haben uns darum als mittelfristigen Meilenstein für die nächsten fünf Jahre vorgenommen, die Optionen auszuloten und zu einem Streik aufzurufen. Dabei ist unser Ansinnen, die Erwerbsarbeit niederzulegen und nicht die Sorgearbeit. Damit begeben wir uns auf unbekanntes Terrain.

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