Gewalt in allen Spielarten
50. Nordische Filmtage Lübeck mit Publikumsansturm
Vor einem Jahr bestimmte ein ungewohnt komödiantischer Ton die Filmauswahl bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck, dem größten deutschen Schaufenster für das skandinavische und baltische Filmschaffen. Ein lebenslustiger Trend, der sich nicht durchsetzte: Zur Jubelfeier ihres 50. Jubiläums kehrten die Filmtage zur Ernsthaftigkeit früherer Jahre zurück und stellten sie mit neuen, härteren Filmen womöglich noch in den Schatten.
Vom Thema Vergewaltigung im dänischen Eröffnungsfilm »Dansen« (Der Tanz, R: Pernille Fischer Christensen), in dem eine Tanzschullehrerin sich zum Entsetzen ihrer Umwelt in einen verurteilten Vergewaltiger verliebt, über die häusliche Gewalt in der auf einer wahren Begebenheit beruhenden Geschichte der Emanzipation einer schwedischen Arbeiterfrau, »Die ewigen Augenblicke der Maria Larsson« (R: Jan Troell) oder die schonungslose Umerziehungspädagogik für auffällige Jugendliche im finnischen »Die Insel der schwarzen Schmetterlinge« (R: Dome Karukoski) bis zum Staat, der seine Bürger mit totaler Überwachung drangsaliert, im dänischen Thriller »Was niemand weiß« (R: Sören Kragh-Jacobsen) ließen manche der Themen im Wettbewerb sich auch auf andere Länder übertragen.
Andere Filme verhandelten Themen, die tief in Geschichte und Geografie ihres Entstehungslandes verwurzelt sind: die Unterdrückung der samischen Minderheit in Nils Gaups norwegischem »Kautokeino oppröret« (Die Rebellion von Kautokeino) über einen historischen Aufstand samischer Hirten gegen den schwedischen Branntweinimporteur, der die Männer der Gemeinde unter Beihilfe ihres norwegischen Pfarrers zur Trunksucht verleitet, oder über den Bürgerkrieg zwischen Weißen und Roten, der Finnland zu Zeiten des Ersten Weltkriegs spaltete, in der finnischen Romanadaption »Käsky« (Die Unbeugsame, R: Aku Louhimies). Oder selbst der EU-verordnete Artenschutz, der die Herden samischer Rentierhirten gefährdet, im schwedischen »Varg« (Wolf, R: Daniel Alfredson) mit einem kantigen Peter Stormare in der Hauptrolle.
Vom Kampf der über alle Länder des Nordens verstreuten Samen um ihre Rentierherden und traditionelle Lebensweise handelten gleich drei Filme. Zwei gingen als Preisträger nach Hause: der selbst aus Kautokeino gebürtige Same Gaup erhielt den Publikumspreis, die schwedische Regisseurin Kine Boman den Dokumentarfilmpreis der Lübecker Gewerkschaften für »Hjordeliv« (Herdenleben). Im Film berichten drei Frauen über ihr Leben mit den Herden und ihren schwebenden Rechtsstreit mit Landbesitzern über die traditionellen Winterweiderechte. Ganz am Ende des Films wird der Streit entschieden: zu Gunsten der Samen. Den ungläubig staunenden Frauen im Vorraum des Gerichtssaals sieht man an, wie völlig unerwartet dieses Urteil für sie kommt: Jahrhundertelange Diskriminierung prägt sich tief in die Seele.
Der Hauptpreis der Filmtage ging an einen Erstlingsfilm: Dem Norweger Stian Kristiansen gelang mit »Mannen som elsket Yngve« (Der Mann, der Yngve liebte) ein ungewöhnlich einprägsamer Film über jugendliche Befindlichkeiten in den späten Achtzigern, über sexuelle Ambivalenzen und ein mögliches Coming-Out seines Helden.
Eine Hommage an Selma Lagerlöf zu ihrem 150. Geburtstag bot willkommene Gelegenheit, Stummfilmklassiker wie Victor Sjöströms »Der Fuhrmann des Todes« oder Mauritz Stillers »Herrn Arnes Schatz« wiederzusehen. Das Filmforum mit Filmen aus den nördlichen Bundesländern glänzte mit diversen sehenswerten Dokumentarfilmen, von denen hier nur »Frohe Zukunft« erwähnt sei, eine Fernsehdoku in Spielfilmlänge von Bianca Bodau, die, ausgehend von den eigenen familiären Problemen nach Wende und Mauerfall, die Lebenslinien von ehemaligen DDR-Bürgern in den letzten zwanzig Jahren nachvollzieht.
Gerade sein stetig wachsender Erfolg droht dem Festival mittlerweile zum Verhängnis zu werden: Die Jubelfeiern bescherten ihm einen erneuten Besucherrekord, zugleich eine höhere Nachfrage nach Akkreditierungen vonseiten der Medienbranche. Doch in einer Stadt, in der es neben dem örtlichen Multiplex nur noch ein weiteres Mehrsaalkino gibt, sind dem Wachstum eines Filmfestes Grenzen gesetzt. Die Nordischen Filmtage werden sich entscheiden müssen, ob sie weiterhin auch als Branchentreff für Filmkritiker, Verleiher und Medienwissenschaftler fungieren wollen oder reines Publikumsfestival werden.
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