Grundrechte schützen – Sammelwut beenden

  • Micha Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.
Grundrechte schützen – Sammelwut beenden

Wir leben in Zeiten des Exhibitionismus. Damit meine ich nicht nur die Castingshows, in denen Menschen Dinge über sich offenbaren, die sie lieber für sich behalten sollten. Diese Auswüchse einer konsumorientierten, wertevernichtenden Gesellschaft sind nicht Thema dieses Beitrags. Auch sind hier die diversen Internet-Anbieter wie Schüler-VZ, Studi-VZ, Jappy und Co. nicht von Relevanz. Zwar werden auch dort riesige Datenarchive angelegt – aber im Gegensatz zur Schülerdatei von den Nutzern selbst. Wer ein Profil anlegt, entscheidet freiwillig und selbstständig, welche Informationen er über sich bekanntgeben möchte.

Die Erhebung der Daten für die Schülerdatei soll über die Köpfe der Schülerinnen und Schüler hinweg erfolgen. Per Gesetz würde festgelegt, dass zum Beispiel Angaben zur »Überwachung und Durchsetzung der Schulpflicht«, »nichtdeutscher Herkunftssprache« und zu ärztlichen Untersuchungen gesammelt werden. Bereits jetzt ist für einen Teil der Daten der Austausch mit verschiedenen Behörden (Polizei, Strafverfolgungsbehörden, Jugendämter, Gesundheitsämter etc.) geplant. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass solche Daten sehr schnell Begehrlichkeiten wecken und die Erweiterung solcher Zugriffsrechte (etwa seitens der Ausländerbehörde) in absehbarer Zeit auf der Tagesordnung stehen wird. Dass es bei den erhobenen Daten nicht bloß um effizientere Schulplanung geht, sondern dahinter vielmehr Kontrollinteressen stecken können, wird schnell klar, wenn man die Argumentation der Justizsenatorin Gisela von der Aue vom April diesen Jahres ansieht. Demnach sei die Schülerdatei »eines der wichtigsten Mittel, um effektiv gegen Schulschwänzer und junge Straftäter vorzugehen«.

Dennoch wird derzeit die Verbesserung der Schulorganisation als Argument vorgeschoben. Als Beispiel wird die Bekanntgabe von Daten zu Beginn des Schuljahres durch den zuständigen Senator angeführt. Dabei geht es um SchülerInnen-Zahlen, auf deren Grundlage die Ausstattung der entsprechenden Schulen geregelt wird. Nach Aussage von Fachleuten sind diese Zahlen schlichtweg falsch. Das bedeutet, dass der zuständige Senator entweder seine Verwaltung nicht im Griff hat oder aber vorsätzlich mit falschen Zahlen operiert. Egal welche der beiden Möglichkeiten zutrifft, die politische Verantwortung liegt jedenfalls nicht bei den SchülerInnen. Dennoch sollen diese für die Fehler anderer herhalten. Weil die Verwaltung nicht richtig arbeitet und weil falsche oder ungenaue Angaben gemacht werden, soll mit der Schülerdatei ein neues Instrument eingeführt werden. SchülerInnen würden für diese zumindest unzureichende Erfüllung der Arbeit sicherlich weniger als die Note 4 geben. Die eigentliche Frage aber lautet, warum einige Schulen »geschönte« Daten über ihre Schüler-Innenzahlen und die Bedarfsermittlung angeben? Weil sonst zu wenige LehrerInnen-Stunden zugeteilt werden? Oder die Ausstattung mit Sach- und Finanzmitteln nicht ausreichen würde?

Die Schulorganisation muss dringend überarbeitet werden. Selbst die Schulinspektion hat gravierende Mängel festgestellt: In vier von fünf geprüften Berliner Schulen findet kein oder nicht ausreichend methodischer Unterricht statt. In 90 Prozent des Unterrichts wird kein Computer verwendet, obwohl der Umgang mit dem PC zu einer Schlüsselkompetenz für Schulabgänger zählt. Die Lehrer-Innen müssen mehr Zeit und Mittel bekommen, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern muss stärker die Möglichkeit zu einem Miteinander gegeben werden. Damit meine ich bestimmt nicht nur das ehrenamtliche Engagement für Schul-Cafés und SchülerInnen-Fahrten, sondern die Einbeziehung in die Schulabläufe, die der allseitigen persönlichen Entwicklung der jungen Mitglieder unserer Gesellschaft dienen müssen. Um aber das Schulschwänzen effektiv anzugehen, brauchen wir pädagogische Konzepte.

Die Einführung einer Datei, in der jeder mit einer Nummer versehen wird, kann die Probleme an Berliner Schulen nicht lösen. Statt Unmengen von Steuergeldern in eine datenschuzrechtlich bedenkliche Schülerdatei zu stecken, sollten diese Mittel in die dringend notwendige Aufstockung der Schulen mit Lehrpersonal und Lehrmitteln fließen. Dann bräuchten auch keine Daten über »Art und Umfang der außerunterrichtlichen Förderung und Betreuung« gesammelt werden, da die Schule ihren Pflichten nachkommen würde. Solange diese Minimalforderungen nicht erfüllt werden, bleiben die Ankündigungen einer Verbesserung der Schule nur vollmundige Absichtserklärungen.

Selbstverständlich sollen moderne Datenverarbeitungssysteme in der Schule Einzug halten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die LehrerInnen und Schulleitungen bei ihren Aufgaben entlastet und unterstützt werden können. Aber für die Bedarfsplanung der Schulen reicht es völlig aus, die relevanten Daten, ohne eine zentrale Datenerfassung mit weitgreifenden Zugriffsrechten, kumuliert an die Senatsverwaltung in einem standardisierten Verfahren zu übermitteln und sie auf hohem Datenschutzniveau in den Schulen zu speichern, wie dies zum Beispiel der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung Berlin vorschlägt.

Es gibt Alternativen zum geplanten Gesetzesentwurf, die nicht nur die Persönlichkeitsrechte der Berliner SchülerInnen schützen würden, sondern ganz nebenbei auch Kosten sparen. Es gibt daher keinen Grund, den Beschluss der Kultusministerkonferenz zur Einführung einer zentralen Schülerdatei in Berlin umzusetzen. Die Berliner Regierung wäre gut beraten, alternative Wege zum bundesdeutschen Trend ausufernder Datensammelwut zu beschreiten und sich klar für den Schutz von Grundrechten zu positionieren. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gilt auch für Schülerinnen und Schüler. Gegen die Schülerdatei und andere Missstände im Bildungssystem sind vergangenen Monat tausende SchülerInnen auf die Straße gegangen. Sie wollen keine Sammlung persönlicher Daten, sondern eine bessere Bildung.

Micha Schmidt absolvierte eine Facharbeiterlehre und begann ein Jurastudium, das er vorzeitig abbrach. Seit 1993 gestaltet er in Berlin Jugendprojekte aktiv mit. Micha Schmidt ist Mitglied im Rat der LandesSchüler-InnenVertretung Berlin (LSV) und war Mitglied der Leitung der Schülerdemonstration, die am 12. November durch die Berliner Innenstadt zog.

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