Klein-Texas in der Lüneburger Heide

Das Zentrum der deutschen Erdölindustrie lag einst in Niedersachsen

  • Holger Henke, Wietze
  • Lesedauer: 6 Min.
Wie der jüngste Streit zwischen Russland und der Ukraine mal wieder schmerzhaft gezeigt hat, ist Deutschland von der kontinuierlichen Zufuhr von Gas und Öl hochgradig abhängig. Das war nicht immer so. Unzählige Fördertürme prägten bis in die 1960er Jahre die Landschaft bei Wietze in der Lüneburger Heide. Die Kleinstadt war das deutsche Dallas.
Außengelände des Erdölmuseums.
Außengelände des Erdölmuseums.

Scheppernd rast der Bohrmeißel nach unten und dringt einige Zentimeter in die Tiefe. Dann greifen die beiden Männer am Flaschenzug wieder beherzt zu und lassen das Seil quietschend über die hölzerne Rolle laufen. Schließlich taucht an der Oberkante des Standrohrs der Meißel auf, die Männer halten inne, blicken rüber zu Bohrmeister Hase und der gibt mit einer Handbewegung Order, den primitiven Meißel wieder in die Tiefe sausen zu lassen.

Knochenarbeit in der Lüneburger Heide

»So in etwa dürfte die weltweit erste Erdölbohrung vor 150 Jahren abgelaufen sein«, schildert Martin Salesch, Direktor des deutschen Erdölmuseums von Wietze. Detailgenau haben die Modellbauer in der Ausstellung nachgebaut, was in Aufzeichnungen von 1858 steht. Selbst die Namen der Bauern, die damals für die Knochenarbeit zuständig waren, sind überliefert. Und natürlich ist auch aufgezeichnet, wer für das Bohrvorhaben verantwortlich war und wer es in Auftrag gab. Geologie-Professor Georg Christian Konrad Hu-naeus hatte sich die 13 Bohrungen von der königlich Hannoverschen Regierung absegnen und finanzieren lassen, um nach Kohle, Erz, Salz und Kalkstein zu suchen. Gefunden wurde bei den von April 1858 bis zum Mai 1859 währenden Bohrungen jedoch klebriges, schwarzes Öl. Für das schmierige Zeug interessierte sich damals kaum jemand, denn die Verwendungsmöglichkeiten waren noch recht begrenzt.

In den USA, wo wenige Monate später, im August 1859, Edwin Drake in Titusville im Bundesstaat Pennsylvania fündig wurde, war dies ganz anders. Dort brach ein regelrechter Bohrboom aus, denn das deutlich leichtere Öl schoss quasi aus den Bohrlöchern und wurde dort unter anderem zur Beleuchtung eingesetzt.

»In Deutschland begann die Nachfrage nach Leuchtölen – vor allem Petroleum – erst mit der industriellen Revolution gegen Ende des 19. Jahrhunderts anzulaufen«, erklärt Erdölexperte Salesch. Da erinnerte man sich natürlich an die Vorkommen im Süden der Lüneburger Heide. 1899 begann Unternehmer Friedrich Hasenbein, seine Bohrung niederzubringen, und punktgenau traf er eine ölführende Schicht. Das schwarze Gold, so ist es überliefert, schoss aus dem Bohrloch und fortan grassierte das Erdölfieber in der Heide. Immer neue Gesellschaften kamen in die nähere Umgebung von Wietze, kauften den Bauern Land ab und begannen, den Ackerboden zu perforieren. 350 Bohrungen wurden allein bis 1904 niedergebracht und ein Jahr später kletterte die Fördermenge auf 27 731 Tonnen. Zehn Jahre später waren es 100 000 Tonnen und der Bedarf des damaligen Deutschen Reiches konnte allein aus dem Ölfeld rund um Wietze gedeckt werden.

»Damals konnte jeder bohren, der Gerät und das nötige Kapital hatte. Bohr- und Fördertürme prägten die Landschaft und mit Pferdefuhrwerken wurden die Holzfässer mit dem kostbaren Öl zu den Lagern transportiert«, erklärt Museumschef Salesch. Von dort wurde das schwarze Gold per Schiff oder Eisenbahn zu den Raffinerien nach Hamburg und Bremen weitertransportiert. In ausrangierten Heringsfässern verstaute man das dickflüssige Gut. Die stehen auch heute noch auf dem Außengelände des Deutschen Erdölmuseums in größerer Zahl herum. Auf das praktische Transportgefäß griffen alsbald auch die Amerikaner nach europäischem Vorbild zurück. »Um Verwechslungen und die spätere Nutzung für Lebensmittel zu vermeiden, wurde der Fassboden blau gestrichen«, sagt der 43-jährige Museumschef lächelnd. Aus dem Fass wurde das Barrel und das Fassungsvermögen von 158,98 Liter ist bis heute das Maß aller Dinge in der Erdölwelt.

Stählerner Bohrturm als Visitenkarte

In der fahndet der Museumsdirektor ständig nach neuen Exponaten. Ein neues Prunkstück, ein Petroleumverkaufswagen, der von Pferden gezogen über die Dörfer zockelte, steht erst seit wenigen Monaten in der Ausstellungshalle. Salesch ist auch der Herr über die letzten Bohrtürme von Wietze. Ein stählerner Metallkoloss mit weißer Bauchbinde, auf der der Schriftzug »Deutsches Erdölmuseum« zu lesen ist, dient als weithin sichtbare Visitenkarte. Aber auch hölzerne, mit dicken Teerschichten bedeckte Förderturme, tiefschwarze Fässer, überdimensionierte Schöpfkellen und allerlei anderes Equipment finden sich auf dem weitläufigen Außengelände, das von der Deutschen Erdöl-Aktiengesellschaft (Dea) 1969 dem Museum überantwortet wurde.

Die Dea war um 1917, als die gesamte Gegend förmlich gespickt mit Förder- und Bohrtürmen war, das wichtigste Unternehmen vor Ort. Das Firmen-Emblem mit dem roten Bohrturm findet sich heute nicht nur in der Ausstellung im Museum, sondern auch am Zentrallabor der Folgegesellschaft RWE Dea, einen Steinwurf vom Museum entfernt. Gut 30 Spezialisten, die vom Bohrkern bis zum Ölsand alles untersuchen, was ihnen von den Dea-Bohrmeistern aus aller Welt zugestellt wird, arbeiten dort. »In Nordafrika sind wir genauso präsent wie am Kaspischen Meer und natürlich auch in Deutschland«, so Derek Mösche, Pressesprecher der Tochtergesellschaft des Energieriesen RWE.

So wird gemeinsam mit der BASF-Tochter Wintershall Holding im Wattenmeer das größte deutsche Erdölvorkommen Mittelplate ausgebeutet. »Das liefert rund 60 Prozent der nationalen Fördermenge, die knapp drei Prozent des Bedarfs deckt«, erklärt Mösche.

Unentdeckte Gas-Vorkommen

Bei Erdgas sieht es etwas besser aus. Da stammt immerhin rund ein Fünftel des Bedarfs aus heimischer Förderung. Vor allem in Niedersachsen und Schleswig-Holstein befinden sich die Vorkommen. Auch da ist die Dea mit von der Partie. Und zwar nicht nur bei der Förderung von Gas, sondern auch bei der Suche nach den letzten kleineren Erdölvorkommen. So sind nahe von Wietze, im Gifhorner Trog, die Dea-Spezialisten genauso wie bei Kiel und im Kreis Plön unterwegs, um nach bisher unentdeckten kleineren Vorkommen zu suchen.

Angesichts sinkender Energiereserven wird auch analysiert, ob es sich lohnen könnte, die eine oder andere alte Fundstätte wieder aufzumachen, um mit modernster Technik noch einige Tonnen aus der Erde zu saugen. »Selbst auf dem Museumsgelände gibt es einen Fleck, wo schweres Öl an die Oberfläche gelangt«, berichtet Dea-Laborleiter Heiko Möller lachend. Alles eine Frage des Preises und mit Rohölpreisen jenseits der 100-Dollar-Marke könnte sich das schon lohnen, erklärt Möller. Er schaut regelmäßig im Museum vorbei und weiß natürlich auch, dass auf dem Gelände früher die »Ölmuckel« Erdöl aus dem Erdreich gekratzt haben.

Zwischen 1918 und 1964 gewannen die Kumpel rund eine Million Tonnen Öl aus Ölsand. An deren harte Arbeit erinnern nicht nur einige ölverklumpte Kleidungsstücke in der Ausstellung, sondern auch die Nachbildung eines Stollens in einem separaten Gebäude auf dem Außengelände des Museums. Dort können die Besucher einen Eindruck von der harten Arbeit unter Tage gewinnen. Über Tage dampfte hingegen lange Jahre die Feldgleisbahn und sorgte für den Transport von Arbeitsmaterial zu den Bohrtürmen. Zwei der klobigen kleinen Dampfloks, die »dicke Berta« und die »kleine Emma«, werden vom Förderverein des Museum regelmäßig unter Dampf gesetzt. Die Zeit der von Weitem sichtbaren Bohr- und Fördertürme ist zwar endgültig vorbei, aber möglich wäre es schon, dass hier und da noch mal eine der markanten Pferdekopf-Pumpen aufgestellt wird. Eine Reminiszenz an Deutschlands ehemalige Erdöl-Hauptstadt.

Das Wietzer Ölfeld am Südrand der Lüneburger Heide um 1917
Das Wietzer Ölfeld am Südrand der Lüneburger Heide um 1917
Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal