Bruder mit Abschlusszeugnis

Kliniken bieten Kurse für werdende Geschwister

  • Hendrik Lasch, Magdeburg
  • Lesedauer: 3 Min.
Wenn Kinder einen Bruder oder eine Schwester bekommen, ist das ein Einschnitt: Die Großen stehen nicht mehr im Zentrum. Geschwisterschulen sollen darauf vorbereiten und Eifersucht vorbeugen.
Schwester Kerstin Schmidt vom Städtischen Klinikum Magdeburg zeigt dem achtjährigen Leon sowie Ludie und Chantal (v.l.), wie die vier Tage alte Johanna richtig gefüttert wird.
Schwester Kerstin Schmidt vom Städtischen Klinikum Magdeburg zeigt dem achtjährigen Leon sowie Ludie und Chantal (v.l.), wie die vier Tage alte Johanna richtig gefüttert wird.

Klare Frage, klare Antwort. Ob er sich denn auf seine Schwester freue, wird Leon auf der Station für Frühgeborene im Städtischen Klinikum Magdeburg gefragt. Der Achtjährige zögert keine Sekunde. »Nein!«, lautet die entschiedene Antwort. Mit einem Bruder hätte er sich vielleicht abfinden können. Aber eine Schwester? Nein, danke. Nicht mit ihm.

Die Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben unter Geschwistern scheinen alles andere als optimal. Denn Leon hat keine Wahl mehr. Die Schwester wird kommen, und zwar in wenigen Wochen. Leons Mutter schiebt schon einen dicken Baby-Bauch vor sich her, als sie ihren Großen im sechsten Stock des Magdeburger Krankenhauses in ein kleines Zimmer bringt. Dort äugen zwei andere Kinder neugierig in einen Wagen, in dem die Baby-Puppe Heike liegt. Auch Chantal und Lucie sind bisher nur Schwestern im Wartestand. Bald wird ein Bruder ihre Leben gründlich verändern – worauf sie in der nächsten Stunde vorbereitet werden sollen.

»Geschwisterschule« heißt der Kurs, zu dem Kerstin Schmidt die Kinder an diesem Nachmittag begrüßt. Schmidt arbeitet in der Geburtshilfestation des Klinikums Magdeburg. Das Haus im Stadtteil Olvenstedt war vor elf Jahren die erste Einrichtung in der Bundesrepublik, in der solche Kurse angeboten wurden. Die Kinder sollten dabei mit den Bedürfnissen der Neugeborenen ebenso vertraut gemacht werden wie mit dem Ort, an dem ihre Mutter die ersten Tage nach der Geburt von Bruder oder Schwester verbringt. Vor allem aber sollen sie sich ein wenig an ihre künftige Rolle als großes Geschwisterkind gewöhnen. Sie sollten, sagt Schmidt, »Stolz auf ihre neue Rolle statt Neid auf das Baby empfinden«.

Die Gefahr besteht. Sie sei als Vierjährige »fürchterlich eifersüchtig« auf ihre frisch geborene Schwester gewesen, sagt Leons Mutter. Auch andere Kinder leiden darunter, wenn die Aufmerksamkeit der Eltern nicht mehr nur ihnen zuteil wird und das Baby vorübergehend im Mittelpunkt steht. In der Psychoanalyse ist vom »Entthronungs-Schock« die Rede. Der Münchner Geschwisterforscher Hartmut Kasten bestätigt, die Geburt des zweiten Kindes könne ein »krisenhaftes Erlebnis« sein, bevor die Erstgeborenen die Rolle als großes Geschwisterkind akzeptieren. Vorbereitungskurse könnten sich dabei »positiv auswirken«.

Nicht nur in Magdeburg hat man das erkannt: Inzwischen bieten viele Kliniken bundesweit solche Kurse an. Im Krankenhaus Olvenstedt bekommen die Geschwister in spe dabei zunächst erklärt, warum Babys viel Ruhe brauchen und immer wieder schreien, wie sie gewickelt und gefüttert werden – und was nicht gut für sie ist: »Bonbons und Schokolade sind schädlich!«, warnt Schmidt. Die Kinder staunen zudem vor Kästen, in denen winzige Frühgeborene liegen, oder lauschen den Herztönen aus dem Bauch einer Schwangeren, die ein Gerät hörbar macht. Schließlich können sie zuschauen, wie die vier Tage alte Johanna gewickelt wird – und sie dürfen das Baby auf den Arm nehmen. Leon lehnt das ab: »Ich lasse fast alles fallen.«

Als er freilich am Ende der Stunde eine Urkunde überreicht und damit attestiert bekommt, die »Theorie-Prüfung« als großer Bruder bestanden zu haben, ist er doch ein wenig stolz. So ging es vielen der 700 Kinder, die Schmidt in dem kostenlosen Kurs »angelernt« hat. Der kann freilich nur ein Anfang sein. Danach sind die Eltern gefordert. Kasten richtet den »dringenden Appell an die Väter: Kümmert euch!« Und auch Schmidt sagt: »Die Großen dürfen nicht das Gefühl haben, an zweiter Stelle zu stehen.« Wie das gehen kann, lernt Leon ebenfalls – in einem Buch, aus dem er zum Abschluss vorliest: Dort stillt die Mutter das Kleine, während Vater mit dem Großen Fußball spielt.

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