Gesundheitsmarkt lockt mit Milliarden Euro
Reformen der letzten Jahre dienten den Interessen der Unternehmen, nicht den Krankenversicherten
Spätestens unter der rot-grünen Bundesregierung wurden 2004 mit dem GKV-Modernisierungsgesetz die Weichen für eine Neustrukturierung des deutschen Gesundheitswesens gestellt. Ziel dieses Reformgesetzes war es unter anderem, die Selbstverwaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) durch mehr Professionalität zu stärken. Ausdruck dafür war die Besetzung der KV-Führung mit einem Hauptgeschäftsführer. Im Außenverhältnis wurde die KV beschnitten. So bekam sie keine Mitwirkungsrechte beim Abschluss der Verträge zur Integrierten Versorgung, wie sie der Paragraf 140 des Sozialgesetzbuches vorsieht.
Die Zerschlagung der bestehenden Selbstverwaltung im Gesundheitssystem setzt sich mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 fort. Mit der Einführung des Gesundheitsfonds wurde erstmalig der Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung staatlich festgelegt und zugleich in die Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenkassen eingegriffen. Doch damit nicht genug: Krankenkassen schließen seitdem Rabattverträge mit Pharmaunternehmen ab. Krankenkassen machen Einzelverträge zwischen niedergelassenen Ärzten und Verträge mit Krankenhäusern aus. Solche Einkaufsmodelle sind Elemente des Marktes. Sie beschleunigen den Zerfall der sozialen Krankenversicherung ebenso wie den Umbau der Krankenkassen zu Unternehmen.
Die soziale gesetzliche Krankenversicherung der vergangenen Jahrzehnte war das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern der alten Bundesrepublik. Das System war geprägt von vier Grundsätzen: dem Sachleistungsprinzip, der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Umlagefinanzierung und dem Solidarprinzip. Das Sachleistungsprinzip wurde durch Zuzahlungen für Medikamente, die Einführung der Praxisgebühr und Selbstbehalte sukzessive durchlöchert.. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz wurde die paritätische Finanzierung aufgehoben. Die Arbeitnehmer zahlen seitdem einen Sonderbeitrag von 0,9 Prozent für Zahnersatz und Krankengeld.
Mit der Entlastung der Arbeitgeber sollten nach Auffassung der politischen Meinungsbildner mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Nachdem die letzten Gesundheitsreformen mehrheitlich die Interessen der Wirtschaft und ihrer Verbände umgesetzt haben, gilt es für das Arbeitgeberlager, das Solidarprinzip und die Umlagefinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung abzuschaffen. Der Hintergrund dafür ist, dass sich längst eine einflussreiche Gesundheitswirtschaft entwickelt hat. Wachstums- und Gewinnmöglichkeiten auf dem Gesundheitsmarkt sind verlockend. Sie werden für die nächsten Jahre auf 540 Milliarden Euro geschätzt. Nicht nur Pharmaunternehmen und die Medizingerätebranche wollen davon profitieren. Auch die Versicherungswirtschaft sieht riesige Begehrlichkeiten, wenn die gesetzliche Krankenversicherung eines Tages noch für die Grundversorgung zuständig sein sollte. Der Gesundheitsfonds eröffnet die Möglichkeit, das so einzurichten. Wer mehr Leistung erwartet, muss demnächst eine Zusatzversicherung abschließen. Der gesetzlich Krankenversicherte kann schon jetzt zwischen Sachleistung und Kostenerstattung wählen.
Insbesondere mit dem GKV-Modernisierungsgesetz sollte angeblich das Monopol der KV als Körperschaften des öffentlichen Rechts gebrochen werden. Geschaffen wurde eine neue Monopolstellung, nämlich die der gesetzlichen Krankenkassen. Diese Monopolstellung bringt nicht nur Pharmaunternehmen in Stellung, sie gefährdet überdies eine flächendeckende bürgernahe Versorgung auf hohem Niveau für alle Patienten.
Die Auseinandersetzung um das neue Leitbild in der Gesundheitspolitik wird in der Bundesrepublik seit Jahren geführt. Wie die Reformen zeigen, steht nicht der Patient im Mittelpunkt, sondern rein wirtschaftliche Aspekte. Eine solidarische Bürgerversicherung allein wird die Probleme nicht lösen können, denn längst steuern Kapitalgesellschaften die medizinische Versorgung in Arztpraxen und Krankenhäusern.
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