Von der Schönheit des Lindenblatts

Wenzel singt Christoph Hein – zwei Freunde, ihre »Masken« und eine ergreifende CD

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.
Hans-Eckardt Wenzel
Hans-Eckardt Wenzel

Unverletzlichkeit ist eine Illusion. Kein Panzer, den ein Mensch sich zulegt, ist dick genug, nicht irgendwann zu brechen. Andererseits: Ohne die Schutzschichten, mit denen wir uns tagtäglich rüsten, die Welt da draußen zu ertragen – und uns ihr erträglich zu machen –, wären wir Schnecken ohne Häuser, gefundendes Fressen für die gierigen Schnäbel unserer Feinde.

Christoph Heins Novelle »Der fremde Freund« (1982) endet mit dem denk-, sprich unglaubwürdigen Statement einer vom Leben gezeichneten Frau: »Es geht mir gut. (...) Ich bin ausgeglichen. Ich bin einigermaßen beliebt. (...) Ich kann mich zusammennehmen, es fällt mir nicht schwer. (...) Ich schlafe gut, ich habe keine Alpträume. (...) Ich bin gesund. Alles, was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüßte nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut.« In der BRD erschien das Buch unter dem Titel »Drachenblut«. Siegfried, der Drachentöter aus dem Nibelungenlied, badet im Blut seines Opfers. Die Hornhaut, die ihn fortan überzieht, macht ihn unangreifbar. Vermeintlich. Doch während des Bades hat sich ein Lindenblatt zwischen Siegfrieds mächtige Schultern gelegt. Der wunde Punkt: sein Geheimnis.

Christoph Hein hat Romane, Erzählungen, Dramen und Essays geschrieben. Von Lyrik keine Spur. Dass er nun seinem Freund, dem Liedpoeten Hans-Eckardt Wenzel, einen Stapel Gedichte zur Vertonung anvertraute, mutet wie die späte Enthüllung eines sorgsam gehüteten Geheimnisses an. Heins Liedtexte sind unfassbar persönlich, ergreifend und schön. Ihre Schönheit aber offenbart Verletztheit und Verletzlichkeit. Es ist die Schönheit des Lindenblatts.

Erdige Farben zieren die CD: spätsommerliches Braun und dunkles Grün, die Farben eines Baumes vor dem Verwelken – im Zustand nicht auszuweitender Lebendigkeit. Heins Silhouette, Schatten und Schattenrisse in wechselnden Positionen, durchzieht das Booklet als Gestaltungsprinzip. Liest man im Heft die Texte, noch ohne ihre musikalische Interpretation zu kennen, wird man erschreckter Zeuge einer sich steigernden Offenbarung, ja eines Lebensresümees. Wenn Heins lyrisches Ich im Eröffnungsstück »Meine Masken« seine Verkleidungstaktik besingt, bedient er sich der Worte der Protagonistin aus »Der fremde Freund«: »Doch vor euch trag ich grundsätzlich/ nur die eine Maske: Ich habe Mut,/ sagt sie euch, bin unverletzlich,/ sagt, ich hab's geschafft, mir geht es gut.« Will sagen: Mir geht es schlecht, hier lege ich vor euer aller Ohren meine Masken ab – und zeig euch das Mal meiner Verwundbarkeit.

Schon im dritten Text begreifen wir, zögernd noch, was diesen Zyklus aus 14 Texten groß und erschütternd umklammern wird: Gedanken, Gefühle um Liebe und Tod: »Du gehst, ich bleib. Die Zeit verweht,/ die mir gegeben./ Ich bleib, du gehst. Und mit dir geht/ mein ganzes Leben.«

Christiane Hein starb am 18. Januar 2002 an Brustkrebs. Sie wurde nur 57 Jahre alt.

Es bedarf keiner Widmung, um Heins Texte als posthume Liebesbezeugungen an seine Frau zu verstehen, selbst dort, wo sie es gar nicht aussprechen. Es wohnt so vielen von ihnen jenes Hadern mit der Unwiederbringlichkeit von Lebens-Möglichkeiten inne, deren ganze Verzweiflung wohl nur der nachfühlen kann, der selbst einen sehr nahen Menschen verloren hat. Im vorletzten Text dann mündet dieses Sehnen in einen demütigen Kniefall vor dem Tod. Wer so zu formulieren wagt, lässt alle Panzer der Unnahbarkeit zerbersten: »Dann ging sie fort. Ihr Tod bleibt eine Wunde./ Ich wünscht, dass wir nochmals zusammen kämen/ für einen Tag nur, nur für eine Stunde,/ dass von der Liebsten ich kann Abschied nehmen./ Du großer Tod, nur darum bitt ich dich!/ Maria, Mutter Gottes, bitt für mich!«

Was für eine Bürde, solche Verse zu vertonen. Bange schieb ich die CD ins Laufwerk. Dann hör ich die Musik – und werde wieder froh. Wie Wenzel Heins Schwermut, diese Schwere, auffängt, wie er sie vor dem Aufprall auf dem Boden bewahrt, wie er sie in der Schwebe hält, ihr Leichtigkeit schenkt und zuweilen gar Flügel verleiht, ist unschätzbarer Freundschaftsdienst, ist überdies große Kunst. Ein Lächeln, ein Trost.

Wenzel, der sich wie gewohnt selbst begleitet mit Gitarre, Klavier und Akkordeon, auch Synthesizer und Perkussion, wendet das subjektive Leid ins Weltweise. Seine Lieder – Chansons, mal volksliedhaft, mal artifiziell, mal von sublimem jüdischen Flair – legen sich, wie frische Lindenblätter, Schicht um Schicht auf die offene Wunde. Die Melodien sind der Wind, der sie treibt. Alles, singen sie, verblüht. Und alles wird wieder erstehen. Jeder Tragik wohnt etwas Heiteres inne, jedem Ende ein Anfang. Jeder Text, und mag er noch so traurig sein, lässt sich so deuten – oder so.

Masken – Wenzel singt Christoph Hein (ersch. bei matrosenblau)
CD-Release-Konzert am 25. April, 20 Uhr, babylon:mitte, Berlin

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