Die zwitschernde Safttante

Die sächsische Unternehmerin Kirstin Walther bringt Obstsaft ins Web 2.0

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Chefin präsentiert ihre Saftboxen.
Die Chefin präsentiert ihre Saftboxen.

Technik hat auch ihren ästhetischen Reiz. Wie Synchronturner purzeln die Plastikbeutel voller Saft aus der Maschine. Sekunden vorher sind sie als schlaffe Säcke in deren metallischen Fängen verschwunden, wurden dann blitzschnell mit ihrem süßen Inhalt gefüllt und vollführen jetzt, zu mehreren in einer Reihe, eine elegante Rolle vorwärts, bevor sie bebend auf dem Fließband zu liegen kommen. Kirstin Walther sitzt, den Kopf versonnen in die Hände gestützt, und schaut dem eleganten Treiben der Saftbehälter zu. »Das ist meine absolute Lieblingsmaschine«, sagt die 38-jährige Firmenchefin, »ich könnte stundenlang zusehen.« Ihre Begeisterung für das Ballett der Beutel steckt an. Auch Besucher staunen über die kullernden Plastikbehälter, die dann im Handumdrehen in Pappkartons verstaut werden, um als »Saftboxen« ihren Weg auf Frühstückstische und Küchenregale anzutreten.

Kirstin Walther zeigt gern, wie der Saft in ihrer Kelterei in die Schachtel kommt. Wer sie in Arnsdorf besucht, hat gute Aussichten, zu einem Rundgang durch die Produktion eingeladen zu werden und dabei von der Chefin persönlich zwischen blitzenden Metalltanks, der riesigen Quetschwalze für das Obst und anderen abenteuerlich anmutenden Maschinen herumgeführt zu werden. Allerdings: Nur die wenigsten ihrer Kunden kommen tatsächlich in den kleinen, kaum 5000 Einwohner zählenden Ort hinter Dresden, der es vor allem durch eine große Heilanstalt für psychisch Kranke zu einiger Bekanntheit gebracht hat. Zwar gehört zur Kelterei auch ein Laden, in dem sich Vorbeifahrende mit Saft eindecken können. Doch Fernreisende, die Arnsdorf passieren, zieht es in der Regel eher in die nahe gelegene Burg Stolpen als in den Betrieb. Auf dessen Hof, der sich in einem Gewerbegebiet am Ausgang des langgezogenen Ortes befindet, rollen daher vorwiegend Lastwagen, die zwei Millionen Liter Saft im Jahr, verpackt in Kästen voller Flaschen und Stapel von Saftkartons, abholen. Die Menschen, die sie später leeren, wohnen oft hunderte Kilometer entfernt.

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Man mag das bedauern. »Früher war alles besser«, hat denn auch Kirstin Walther einmal geschrieben: »Früher stand der Chef noch auf dem Hof und unterhielt sich mit seinen Kunden«. Firmenchef waren ihr Urgroßvater, der die Kelterei 1927 gründete, danach Großvater und Vater. Ihre Kunden waren zumeist die Vorfahren der heutigen Arnsdorfer, Fischbacher und Stolpener. Weil der Saft noch nicht sehr weit in die Welt geschickt wurde, kannten die Walthers viele Kunden sogar mit Namen. Ihre Gespräche drehten sich sicher um das Wetter, um Hochzeiten und Todesfälle, nicht zuletzt aber um Saft und Obst: welche Äpfel sich durch besondere Süße auszeichneten, wie die Ernte bei Kirschen und Rhabarber ausfiel oder wie man Saftvorräte am besten lagerte. Wenn in der Kelterei etwas schief gegangen war, standen die Kunden vermutlich umgehend in der Tür und beschwerten sich. Der Chef indes konnte im Notfall erklären und unter Zuhilfenahme einiger Flaschen Saft sicher auch besänftigen, was künftigen Geschäften recht förderlich gewesen sein dürfte.

Dass diese Zeiten vergangen sind, kann man beklagen; man muss es aber nicht. Kirstin Walther neigt nicht zu Sentimentalität, sondern zum Anpacken. Den Satz, wonach früher alles besser gewesen sei, hat sie denn wohl auch mit einem ironischen Augenzwinkern verfasst. Er steht seit Februar 2006 über einem »Weblog«, einer Art Tagebuch im Internet, in dem die junge Chefin über den ein Jahr zuvor von ihr übernommenen Betrieb plaudert: über neue Säfte, anfängliche Probleme mit deren Verpackung oder selbst entwickelte Maschinen, aber auch über Rezepte, Ernährungstipps und Ausflugsempfehlungen. Und weil Internet-Blogs im Unterschied zu früheren, im Nachtschrank verborgenen Tagebüchern keine Einbahnstraße sind, plaudern ihre Leser munter mit: Sie loben oder kritisieren Säfte, erkundigen sich neugierig nach technologischen Verfahren oder teilen schlicht mit, dass die Kinder die Saftbox schon wieder leergetrunken haben. Technik macht's möglich: Das Hofgespräch findet inzwischen im Internet statt.

Beim Blog hat es die Firmenchefin freilich nicht belassen: Auch auf die Betriebsrundgänge lädt sie ihre Kunden inzwischen virtuell ein. Das Ballett der Saftbeutel etwa ist in einem Kurzfilm festgehalten, der beim Videoportal »Youtube« eingestellt ist und im »Saftkanal« auf der Homepage der Kelterei angesehen werden kann – wie auch Beiträge, in denen lustige Anekdoten aus dem Firmenleben präsentiert werden oder erklärt wird, was es mit der Aroniabeere auf sich hat, einer erst in den letzten Jahren wiederentdeckten Frucht, deren Saft nach Ansicht eines Dresdner Spitzenkochs »wie ein herber Rotwein ohne Alkohol« schmeckt und der in der Kelterei heute für fast die Hälfte des Umsatzes sorgt. Das Echo auf die locker erklärenden Filme ist begeistert. »Sehr authentisch und sympathisch«, kommentiert ein Blog-Besucher; er fühle sich, schreibt ein anderer, fast wie beim Kinderfernseh-Klassiker »Die Sendung mit der Maus«.

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Der Arnsdorfer Unternehmerin zeigen solche Reaktionen, dass sie richtig lag mit ihrer Hinwendung an das sogenannte Web 2.0, jene neuen Elemente des Internet, die Nutzer zum Mitmachen einladen. In Blogs und Chats, Video- und Musikportalen oder Communities werden Inhalte nicht mehr von großen Anbietern zum passiven Rezipieren bereitgestellt, sondern von den Benutzern selbst auf die Seiten geladen und mit anderen geteilt. Im Idealfall entstehen dabei Netzwerke, in denen kreative Einfälle und technische Fertigkeiten gebündelt oder breite soziale Kontakte über große Entfernungen hergestellt werden. Experten sprechen mit unüberhörbarem Pathos vom »demokratischen Internet«. Zwar gleichen weite Teile des Web 2.0 noch einer großen Spielwiese; doch wittern Wirtschaft und Politik bereits enorme Möglichkeiten. Immer mehr Unternehmen richten Blogs für ihre Kunden ein, und deutsche Politiker suchen die Wahlkampagne von US-Präsident Barack Obama zu imitieren, die nicht zuletzt im Internet gewonnen wurde.

Als Kirstin Walther vor drei Jahren das alte Gästebuch auf der Homepage der Kelterei in ein Blog umwandelte, betrat sie noch Neuland: Viele der Elemente des Web 2.0 begannen gerade erst ihren Siegeszug, Fachliteratur gab es kaum, und »Twitter«, ihr jüngster Favorit, war noch nicht einmal entwickelt. Twitter, was so viel wie »Zwitschern« bedeutet, ist ein Dienst zur Übermittlung von Kurzmitteilungen, der es ermöglicht, einzelne Gedanken, Bemerkungen oder Auskünfte in Windeseile zu verschicken. Über den Effekt kann man streiten: Auf den Seiten vieler Teilnehmer wimmelt es von Banalitäten. Zugleich erkunden Journalisten, Politiker oder PR-Mitarbeiter aber eifrig die Möglichkeiten zur Nachrichtenübermittlung oder für das sogenannte viral marketing, einer Art Mund-zu-Mund-Propaganda. Kirstin Walther, die unter dem Benutzernamen »Safttante« twittert, kann auf diesem Wege blitzschnell Kundenanfragen beantworten – aber auch, bevor sie spätabends ihren Laptop zuklappt, ihren Lesern noch eine Musikempfehlung mit in die Nacht geben.

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Nicht wenige der neuen Möglichkeiten im Internet ernten noch verbreitet Misstrauen; sie werden als oberflächliche Spielereien abgetan, deren Nutzung vor allem viel Zeit verschlingt und Geschwätz statt geistvoller Unterhaltung befördert. Der Chefin der Arnsdorfer Kelterei indes haben Saftblog und Saftkanal die Möglichkeit gegeben, gewissermaßen das Hof- und Stadtgespräch früherer Zeiten wieder zu beleben: Was einst ein flüchtiger Schwatz über den Betriebszaun war, ist heute eine Twitter-Botschaft; wo früher die Dorfbewohner ihre Nase durch die Betriebstür steckten, bekommen die Keltereikunden heute vor der Kamera Saftpresse und Separator erklärt – mit der Folge, dass die Firmenchefin in ihrer Internet-Gemeinde ähnlich populär ist, wie es ihre Vorgänger in der Gegend um Arnsdorf gewesen sein dürften: »Die Leute haben das Gefühl, sie kennen mich persönlich.«

Zum Prinzip hat es sich Walther dabei gemacht, nicht nur eine schöne und glitzernde Fassade zu zeigen. Die Unternehmerin, die eine legere Strickjacke dem strengen Kostüm vorzieht, plaudert im Saftblog auch ohne falsche Scheu über Probleme im Betrieb. Als es in einigen der ersten Saftboxen zu gären begann und die Kartons schließlich sogar explodierten, stellte sie ein Foto des Debakels ins Internet – sehr zum Entsetzen von Unternehmensberatern. Doch während diese erwartet hatten, dass sich die Kunden angesichts der unappetitlichen Bilder abwenden, warteten Leser der Seite mit Ratschlägen zur Verbesserung der Verpackungen auf, die danach auch erfolgreich umgesetzt wurden. »Unsere Kunden haben noch immer die besten Ideen gehabt«, sagt Walther, die daher auch nicht verstimmt ist, wenn im Blog gemeckert wird: »Wer sich beschwert«, sagt die Firmenchefin, »der hat Interesse« – anderenfalls würde er vermutlich schlicht wortlos die Saftsorte wechseln.

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Dass Walther sich so offen, unkompliziert und regelmäßig mit Kunden, Händlern und Lieferanten austauscht, hat die Familienfirma gerettet, die wegen hoher Investitionen und stagnierender Absätze vor einigen Jahren kurz vor der Pleite stand; die Idee zur Saftbox, die sich inzwischen zum Verkaufsschlager schlechthin entwickelte, wurde geboren, als gemeinsam überlegt wurde, wie ein »Schlüsselkunde« in Wilhelmshaven zu seinem Aroniasaft kommen könnte. Wie Kirstin Walther für diese Art der Kommunikation das neue Internet nutzt, hat sie bekannt gemacht: Die Unternehmerin gilt inzwischen als Expertin und wird regelmäßig zu großen Konferenzen über das Web 2.0 eingeladen – eine Entwicklung, über die sie selbst nur den Kopf schütteln kann: Schließlich hat die gelernte Industriekauffrau zwar ein Faible für technische Spielereien, versteht aber, wie sie selbst beteuert, »viel weniger davon, als viele denken«. Sie habe »vieles einfach ausprobiert«, sagt Walther. Offenbar hat ihr gesunder Menschenverstand dabei genauso weit getragen wie fundierte theoretische Analysen: Für das Marketing kleiner Unternehmen, sagen Fachleute, biete das Web 2.0 große Möglichkeiten, finanziell bedingte Nachteile gegenüber den »Goliaths« auf dem Markt wettzumachen.

Wahrscheinlich ist es der Menschenverstand, der in der Arnsdorfer Kelterei in vier Generationen herangereift ist: Der Chef muss sich auf den Hof stellen und ehrlich und unverblümt mit den Kunden reden – auch wenn sich der Firmenhof heute im Internet befindet. Blogs und Videos lassen das fast vergessen. Nur einen einzigen Nachteil haben die elektronischen Kanäle: Ein Glas Saft kann man im Internet nicht miteinander trinken.

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