Das größte Klassenzimmer der Welt

Die School of the Air ermöglicht Kindern im australischen Outback eine normale Schulbildung

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.

Penny achtet penibel darauf, dass Jemiah nicht im Schlafanzug zur Schule geht. »Mir würde das nichts ausmachen«, sagt die Elfjährige. »Aber Mama ist da streng. Doch wenigstens die Schuluniform muss ich nicht jeden Tag anziehen.«

Die trägt sie nur an wenigen Tagen im Jahr, immer dann, wenn sie ihre Klassenkameraden trifft und endlich auch wieder Gelegenheit hat, mit ihrer besten Freundin ausgiebig über all das zu tuscheln, was Mädchen in diesem Alter bewegt. Viel Gelegenheit dazu haben die beiden nicht, denn Jemiah und ihre Freundin wohnen rund fünf Autostunden voneinander entfernt. Dennoch gehen sie in eine Klasse.

Beide sind im australischen Outback in Queensland zu Hause und lernen in der fünften Klasse der Longreach School of Distance Education (Fernunterrichtsschule in Longreach). Jemiah lebt mit ihren Eltern Penny und Charles Philott auf der Carisbrooke Station, einer Rinderfarm, 170 Kilometer von Longreach entfernt. Ihre drei Brüder Sebastian (17), Josiah (14) und Harrison (13) kommen nur in den Ferien nach Hause. Sie wohnen 500 Kilometer entfernt in einem Internat, wo sie die Highschool besuchen. Jemiah bekommt Fernunterricht in einer School of the Air.

Lehrer müssen auch Mechaniker sein

Von Montag bis Freitag wählt sie sich, genau wie ihre Klassenkameraden, die auf einer Fläche von rund 403 000 Quadratkilometern verstreut leben, jeden Morgen, pünktlich 8.45 Uhr, ins Funknetz ein. »Good morning, Miss Riekard«, begrüßen sie ihre Lehrerin, dann beginnt der Unterricht. 20 bis 30 Minuten dauert eine Lektion, drei stehen täglich auf dem Stundenplan. Danach erledigen die Kinder schriftliche Übungsaufgaben, die sie für jeweils 14 Tage per Post bekommen und dann an die Schule zur Auswertung zurückschicken. Einmal im Jahr treffen sich alle Schüler einer Klasse zum gemeinsamen Unterricht in Longreach. Und alljährlich verbringen sie eine Woche zusammen in einem Camp. Doch 50 Wochen leben die Kinder allein mit ihren Eltern und – wenn sie Glück haben – ihren Geschwistern fernab der Zivilisation im Outback.

Dass sie dennoch eine normale Schulbildung bekommen, ist nur dank des großen Engagements von Lehrern, Eltern und des Staates möglich, der die Kosten für die Ausbildung, die doppelt so hoch sind wie in städtischen Schulen, fast vollständig trägt. Die Kinder erhalten kostenlos Computer, Schulbücher und Unterrichtsmaterialien, die Lehrer eine spezielle Zusatzausbildung, die weit über Pädagogik und Psychologie hinausgeht. Unter anderem lernen sie auch, wie man wichtige Reparaturen an Autos selbst erledigen kann. Denn: Einmal im Jahr besuchen sie jeden Schüler zu Hause. Bis zu 500 Kilometer müssen die Lehrer dabei zurücklegen, durch eine Landschaft, in der man manchmal tagelang niemanden trifft und wo die Funkverbindung nicht immer gewährleistet ist. Da sollte man schon in der Lage sein, einen Reifen zu wechseln. Im schlimmsten Fall kann das lebensrettend sein.

Mit den Flying Doctors kam der Aufschwung

Seit 1901 werden die Kinder im Outback unterrichtet. Anfangs zogen die Lehrer mit Pferd und Wagen los, waren oft tagelang unterwegs und blieben zumeist länger als Hauslehrer in den Familien. Ab 1916 ging man immer mehr dazu über, schriftliche Fernkurse, sogenannte Correspondence Schools, anzubieten. Schnell etablierte sich diese Unterrichtsform, weil für die meisten Farmerfamilien ein Internat oder Privatlehrer unerschwinglich waren.

Der große Durchbruch kam 1944, als die Pädagogin Adelaide Miethke die Idee hatte, den Kurzwellenfunk des Royal Flying Doctor Service (Fliegende Ärzte) im Outback auch für den Schulunterricht zu nutzen. Die erste School of the Air wurde 1951 in Alice Springs (Northern Territory) gegründet, zahlreiche andere folgten. Allein im Bundesstaat Queensland gibt es heute sieben, eine der größten ist die in Longreach. Sie wurde 1987 gegründet und ist eine Mischung zwischen der Correspondence und der School of the Air. 24 Lehrerinnen sowie zwölf Bibliothekarinnen, Techniker und andere Mitarbeiter sind sind für gegenwärtig 170 Jungen und Mädchen von der Vorschule bis zum Abschluss des zehnten Schuljahres zuständig. Keine Klasse hat mehr als zwölf Schüler, die bei den Funklektionen in zwei Gruppen geteilt werden. Nur so wird garantiert, dass die Lehrerin auch zu jedem einzelnen Kind einen persönlichen Kontakt aufbauen kann. Noch können sich Lehrer und Schüler nur hören, doch bis 2011 sollen alle Computer mit Webcams ausgestattet sein.

Für Besucher stehen die Schultüren offen

Wie in den meisten Schools of the Air öffnet sich auch die Longreacher interessierten Touristen. Man kann nicht nur im Unterricht hospitieren, sondern sich auch alle Räumlichkeiten – von der Bibliothek bis zum Computerkabinett – anschauen. Janice Ballard, eine der Lehrerinnen, die selbst aus dem Outback kommen, führt uns durch die Schule. Unter den Besuchern ist ein älteres Ehepaar, das ganz begeistert von der Technik ist, mit deren Hilfe heute den Kindern im größten Klassenzimmer der Welt eine normale Schulbildung ermöglicht wird. Der Mann erzählt von seiner Mutter, die 1922 Fernunterricht bekam. Drei Wochen habe es damals gedauert, ehe die Schulmaterialien mit der Post ankamen, eine Woche hätte sie dann Zeit gehabt, um mit Hilfe ihrer Mutter die Hausaufgaben zu erledigen, wiederum drei Wochen später lieferte die Post sie beim Lehrer zur Kontrolle ab. Damals habe man vor allem Lesen und Schreiben gelernt, er staune, was heute so alles unterrichtet wird: Mathematik, Physik, Kunst, Geografie, Biologie, sogar Sport und Sprachunterricht.

Jemiah bespielsweise hat sich für Japanisch entschieden. Jede Woche kommt ihre Lehrerin – eine Muttersprachlerin – über Funk zu ihr nach Hause. Anfangs habe sie sich ein bisschen schwer getan mit den fremden Schriftzeichen und der Aussprache, jetzt aber klappe es schon ganz gut, erzählt sie.

Ihre Mutter kann das bestätigen, ist sie doch so etwas wie die Lehrerin vor Ort. Denn trotz moderner Technik, ohne eine qualifizierte Betreuung der Schüler zu Hause läuft gar nichts. Meist sind es die Mütter, die diese verantwortungsvolle Arbeit übernehmen. Voraussetzung ist, dass sie die mittlere Reife besitzen, ausgebildete Lehrer müssen sie indes nicht sein. Sie sind bei den Funklektionen dabei, überprüfen die Hausarbeiten, sollten Lehrer und beste Freundin gleichzeitig sein. Und sie müssen geduldig sein und ihre Kinder immer wieder motivieren können. Penny erzählt von ihrem jüngsten Sohn Harrison, der anfangs so schüchtern war, dass er sich nicht traute, mit der Lehrerin per Funk zu sprechen. Lange habe es gedauert, ehe er diese Scheu ablegte.

Da ist Jemiah ganz anders, der Fernunterricht bereitet ihr keinerlei Mühe. Sie ist eine gute Schülerin. Dennoch will auch sie im kommenden Jahr auf eine Internatsschule wechseln, gemeinsam mit ihrer Freundin. Seit auch Harrison weg ist, sei es doch manchmal ein bisschen einsam, gesteht sie. Zwar verstehe sie sich super mit ihren Eltern, doch manche Probleme könne sie eben nur mit der besten Freundin besprechen.

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