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Ein Foto und ein Bild, das nicht gelingt

Anne Frank wäre heute 80

  • Lesedauer: 3 Min.
Vermächtnis statt Roman: Anne Frank
Vermächtnis statt Roman: Anne Frank

Vielleicht sehr weißes Haar, Brille. Eine Schriftstellerin. Oder wenigstens Journalistin. Das wollte sie werden. Und nunmehr: achtzig Jahre alt.

Dies Bild gelingt nicht, denn wenige gebliebene Fotos frieren eine Jugend fest, die nie verging: Anne Frank wurde nur fünfzehn Jahre alt. Verachtenswerter Widerspruch: Was sie schrieb, wurde berühmt, weil es zunächst zum Einzigen wurde, was ihr blieb, und dann das Einzige war, was von ihr blieb. Ein Roman sollte entstehen, so hoffte sie – es wurde ein Vermächtnis. Berühmtheit kann einen Preis haben, den man verfluchen möchte.

Dem Deutschen Otto Frank – Jude, ehemaliger Bankier – glückt 1933 eine Instinktleistung: Er gründet in Amsterdam eine Niederlassung. Die »Arisierung« der Firma übersteht er listig; seit 1942 im Hinterhaus-Versteck, greift er noch immer in die Arbeit des Betriebes ein. Zwei Jahre später dann die Verhaftung der acht Untergetauchten durch die SS. Auschwitz! Frank überlebte. Aber seine Frau nicht, Tochter Margot nicht, auch Tochter Anne nicht; nach Bergen-Belsen weitergeschleppt, stirbt sie dort, März '45.

Niederländer haben der Familie Frank geholfen, andere Niederländer verrieten sie. Ausgleichende Ungerechtigkeit: Das Gute und das Böse bleiben eine Paarung.

Annes Tagebuch hat alles durch, was ein einträgliches Werk nur durchmachen kann: Fälschungsanwürfe, Urheberrechtsstreite, Übersetzerfehden, Legendenpflege, Abwertung. 1957 ging das Copyright am »prominentesten Holocaust-Opfer« (FAZ) an die Amsterdamer Stiftung – gegründet mit Spendengeld: dem Erlös für den hunderttausendsten in den Niederlanden verkauften Volkswagen.

Das Buch ist in ersten Ausgaben inhaltlich, stilistisch geschönt worden (auch von Otto Frank) – stets unter dem Sinngebot, das Bild einer Verfolgten erzieherisch rein zu halten. Aber Anne war doch auch eine anders Verfolgte: von Pubertät, von ungerechten, widerborstigen, unfreundlichen Wahrnehmungen (etwa gegen die Eltern), so, wie es zu jeder Existenz gehört. Zu jeder Literatur erst recht.

Mit den Jahren und den Öffnungen des Textes fand der wirklich unmittelbare Ton des Tagebuches in die Welt. Es durfte mit der Zeit wieder das private Ereignis des Ursprungs werden – zuvörderst ein inniges menschliches Dokument, mit Kanten und Ecken, dann erst antifaschistisches Zeugnis. So aber gewinnt politische Kultur erst unverwechselbare Kraft: wenn sie Leben atmet, und Leben ist Unkorrektheit, Überschuss, Unbekümmertheit.

Ab 7. Juni 1986 druckte die »Junge Welt« der FDJ, als erste Zeitung überhaupt, das Tagebuch als Fortsetzungsroman. Der »Deutschlandfunk« sprach von »offensiver Erinnerungsarbeit«, die Schweizer »Weltwoche« stellte einen »kühnen deutschen Plot« fest. Der Stempel »verordneter Antifaschismus« hatte da seine Zukunft noch vor sich.

Das Mädchen wurde nicht älter als der Traum, den es vom Leben hatte. Fast könnte man das einen heiteren Gedanken nennen, er rettet die Unschuld hinüber ins schöne Feld der unantastbaren Möglichkeiten. Es ist kein heiterer Gedanke. Und da starb ein Mensch auch nicht einen frühen Tod – es wurde ein Kind aufgrund deutscher Verhältnisse ermordet, vom Typhus, der in den Lagern ein Zuarbeiter der Nazis war. Das nimmt allem, was man über Anne Frank schreiben mag und kann, jeglichen Trost.

Hans-Dieter Schütt

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