Wo die Uhren wirklich richtig ticken
Seit 125 Jahren gibt Görlitz den Zeittakt für Mitteleuropa vor / Verein wirbt für den 15. Meridian
Bis Silvester ist es noch eine ganze Weile hin. Uwe Köhler will trotzdem schon einmal warnen: »In fast allen deutschen Orten knallen die Korken zu früh«, sagt er. Stuttgart etwa feiert den Jahreswechsel 27 Minuten, bevor er sich dort tatsächlich vollzieht. Wirklich pünktlich werde genau genommen nur in einer einzigen Stadt in der Bundesrepublik gefeiert: in Görlitz.
Den Grund dafür könnte kaum jemand besser erklären als Köhler. Schließlich gehört er zu den Mitbegründern des »Koordinierungsbüros 15. Meridian«. Es ist benannt nach dem Längengrad, der nur ein paar Meter vom Ufer der Neiße entfernt durch die östlichste Stadt Deutschlands verläuft – und seit 125 Jahren maßgeblich für die mitteleuropäische Zeit ist. Auf einer Konferenz in New York wurde 1884 der durch Greenwich in England verlaufende Nullmeridian zur Basis des Koordinatensystems erwählt. Köhlers Verein erinnert mit einer Ausstellung an das Jubiläum, weil damit auch die Zeitzonen festgelegt wurden. Die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) beruht auf der Ortszeit am 15. Grad östlicher Länge – also in Görlitz. Anderswo in der politisch festgelegten Zeitzone, die heute von der polnisch-ukrainischen Grenze bis Spanien reicht, weichen Ortszeit und MEZ voneinander ab, am Kap Finisterre ganz im Westen um immerhin anderthalb Stunden. »Bei uns«, lautet der Slogan des Görlitzer Vereins, »ticken die Uhren richtig.«
So richtig bekannt ist die zentrale Rolle der Stadt in der Lausitz für die Zeitmessung in Zentraleuropa freilich nicht. Zwar gibt es schon seit 1961 einen »Meridianstein«, der den Verlauf des 15. Längengrads aufzeigte. Derlei Markierungen wurden in jenem Jahr auch in anderen Städten errichtet, die auf dem Meridian liegen: Motala in Schweden, das dänische Gudhjem, Gmünd in Österreich und Catania auf Sizilien.
Doch die von einem örtlichen Bildhauer gestaltete Kugel aus Beton, die »dem ersten Raumflug des Menschen« gewidmet ist, fristete lange ein Schattendasein in einem Park neben der ebenfalls verwaisten Stadthalle. In den 60er Jahren wurde die zufällige geografische Nähe besonders zu Gmünd noch ausgenutzt: War es zuvor nicht gelungen, Partnerschaften zwischen Städten in Österreich und der DDR zu begründen, so reiste 1963 eine Mini-Delegationen zu einem Meridiantreffen nach Gmünd, um bei der Gelegenheit für Görlitz zu werben und »den Aufbau des Sozialismus in geeigneter Form darzustellen«, wie man im Rat des Bezirkes im Reiseantrag formulierte.
Die Zeit, da der Meridianstein für Werbung in Sachen Sozialismus herhalten musste, ist in Görlitz vorerst abgelaufen; jetzt wird er für das Stadtmarketing genutzt. »Damit kann man für Bekanntheit sorgen«, sagt Uwe Köhler und erklärt, dass seit 1893 die »Görlitzer Zeit« in ganz Deutschland galt und damit der bis dato gültigen Münchner oder Berliner Zeit das letzte Stündlein geschlagen hatte. Leider, fügt er hinzu, »wissen die wenigsten Leute, dass sie ihre Uhren nach unserer Ortszeit stellen«.
Das Koordinierungsbüro, das zu einem heimatgeschichtlichen Verein gehört, will das ändern: mit einer noch bis Ende August geöffneten Ausstellung im Stadtmuseum, die sich dem Phänomen Zeitmessung widmet, aber auch mit eher unterhaltsamen Aktivitäten. Unter anderem wurde am Meridianstein schon die »genaueste Silvesterfeier Deutschlands« abgehalten. Brautpaare, Kinder und Touristen können sich einer »Meridiantaufe« unterziehen. Zum Ritual gehört das gemeinsame Stellen der Uhren: »Damit sie die exakte Zeit mit nach Hause nehmen können.«
Im Rathaus scheint man das Potenzial der bundesweit einzigartigen Lage am 15. Längengrad noch nicht erkannt zu haben. Eine Zeitlang fuhr ein Stadtbus auch zum Meridian; die Linie ist aber eingestellt. Hinweisschilder sucht man seither vergebens. Dabei kämen manche Touristen »extra deshalb nach Görlitz«, sagt der Mann vom Meridian-Büro. Vielleicht, weil sie wenigstens einmal im Leben das Gefühl haben wollen, auf die Minute genau pünktlich zu sein.
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