Mythos Borreliose

Die von Zecken verursachte Krankheit wird oft fälschlich diagnostiziert

  • Walter Willems
  • Lesedauer: 4 Min.
Borreliose ist zu einer Projektionsfläche für Beschwerden aller Art geworden. Häufig führen Menschen selbst Probleme wie Müdigkeit oder Schlafstörungen auf die durch Zecken übertragenen Bakterien zurück.

Der Brief klingt wie ein Hilferuf. Bis zu ihrem 13. Lebensjahr sei sie kerngesund gewesen, schreibt die Frau. Dann habe eine Borrelien-Infektion verheerende Folgen hinterlassen. Sie nennt etwa Unterleibsschmerzen, Rückenprobleme und lilablaue Flecken an Gelenken. »Mein Hausarzt muss mir immer wieder Antibiotika verschreiben, da die Symptome neu auftreten«, berichtet sie und bittet um Rat.

Solche Klagen erreichen Helmut Eiffert von der Uniklinik Göttingen fast täglich. Der Infektiologe, der etliche Fachartikel über die bakterielle Erkrankung verfasst hat, hört seit Jahren zunehmend Klagen über vage Beschwerden wie Müdigkeit, Konzentrationsschwäche oder Schlafstörungen, hinter denen Patienten eine Borrelien-Infektion befürchten. »Borreliose ist zu einem Sammelbecken für Spekulationen und Befürchtungen mit einer Vielzahl unspezifischer Beschwerden geworden«, klagt Eiffert. »Das führt zu vielen Überdiagnosen und Übertherapien.«

Dagegen schätzt Ute Fischer, dass etwa eine Million Bundesbürger an chronischen Beschwerden durch Borrelien leiden. Die Geschäftsführerin des Borreliose-Bunds Deutschland kritisiert, Mediziner würden deren Symptome nicht ernst nehmen. Unstrittig ist, dass die Bakterien ein enormes Spektrum von Symptomen hervorrufen können. Typischster Hinweis auf die Erkrankung, an der bundesweit offiziellen Schätzungen zufolge rund 80 000 Menschen erkranken, ist die Wanderröte – ein Fleck um die Einstichstelle, der nach einem Zeckenstich auftreten kann, bisweilen aber ausbleibt. Verbreiten sich die Bakterien weiter im Körper, können sie verschiedene Beschwerden auslösen – unter anderem Schmerzen an Gelenken, Herzprobleme oder die Hauterkrankung Acrodermatitis. Die Neuroborreliose, bei der die Erreger das Nervensystem befallen, äußert sich oft durch Nervenentzündungen mit brennenden Schmerzen, Blasenstörungen oder Lähmungen von Gesichtsmuskeln.

»Den wichtigsten Hinweis auf die Krankheit liefert die Art der Beschwerden«, so Volker Fingerle, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Borrelien. »Es muss ein klinisches Bild geben, das den Verdacht begründet.« Im zweiten Schritt soll ein Bluttest zeigen, ob der Körper Kontakt zu Borrelien hatte. Leider liefert dieser oft kein klares Bild. Enthält das Blut spezifische Antikörper, werten viele Patienten und manche Ärzte dies als Nachweis der Krankheit. Doch es belegt nur, dass das Immunsystem sich irgendwann gezielt mit Borrelien befasste. Zehn bis 15 Prozent der Bundesbürger tragen Antikörper. Dies sei kein Nachweis für eine akute oder frühere Borreliose, so die Deutsche Gesellschaft für Neurologie.

Vielmehr suchen Ärzte nach Hinweisen auf eine Entzündung. Zur Abklärung einer Neuroborreliose analysieren Labore das Nervenwasser darauf, ob die Flüssigkeit vermehrt weiße Blutkörperchen und spezifische Antikörper enthält. »Wenn keine Entzündungszeichen nachweisbar sind, fehlt ein entscheidendes Kriterium«, sagt Fingerle.

Aber manche Patienten vertreten die Ansicht, eine Borreliose könne auch ohne Entzündung vorliegen. Fischer glaubt, die Keime könnten sich bei ungünstigen Bedingungen verstecken und später wieder aktiv werden. »Manche Patienten machen über Jahre hinweg immer wieder Antibiotika-Kurse«, sagt der Neurologe Holger Schmidt, der die Borreliose-Sprechstunde der Uniklinik Göttingen leitet. Dass es Fälle von chronischer Borreliose gibt, bestreitet kaum jemand. Aber sie seien sehr selten, betont Eiffert. Allerdings können die Bakterien an Haut, Gelenken oder Nerven bleibende Schäden hinterlassen. »Das ist dann aber keine Borreliose, sondern eine Folge der Erkrankung«, erläutert Eiffert. Was klingt wie Haarspalterei, hat wichtige Konsequenzen für die Therapie: Denn sind keine Keime mehr im Körper, helfen auch Antibiotika nicht.

Um zu klären, wie oft der Verdacht auf chronische Neuroborreliose tatsächlich begründet ist, untersuchten Schmidt und Eiffert 127 Patienten, die mit Verdacht auf die Krankheit an die Göttinger Borreliose-Sprechstunde überwiesen wurden. Die akribischen Untersuchungen bestätigten die Vermutung nur bei einem Teilnehmer. Bei etwa der Hälfte der Probanden fanden die Mediziner andere mögliche Ursachen der Beschwerden wie rheumatische Erkrankungen oder Multiple Sklerose.

Bei fast der Hälfte der Patienten fanden die Forscher keine organische Erklärung. »Man sollte sich nicht unbedingt mit der Diagnose chronische Borreliose zufrieden geben, sondern auch für andere Erklärungen offen sein«, folgert Eiffert.

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