Deutsche Zugabe für Polens »Eintopf«

Debatte über Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkriegs mit antirussischem Einschlag

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 3 Min.
Polens Schaltstellen der »Geschichtspolitik« erwecken derzeit den Eindruck, als ob man nicht so recht wisse, welchem Ereignis die größte Bedeutung beizumessen sei: dem 70. Jahrestag des »Hitler-Stalin-Paktes« vom 23. August 1939, dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939, der sich zum 29. Mal jährenden Unterzeichnung der Gdansker Vereinbarung u.a. über die Zulassung einer »freien, von Staat und Partei selbstständigen und unabhängigen Gewerkschaft«, dem »Sieg der Solidarnosc 1989 und der Befreiung vom Kommunismus« – oder am liebsten diese vier historischen Geschehnisse zusammengerührt?

Polens politisch-historischem »Eintopf«, den für 1939 und 1989 das gleiche Logo symbolisiert, wurde am Wochenende eine deutsche Zugabe beigemischt. Die Medien vermeldeten eine »wichtige Erklärung von etwa 140 deutschen Intellektuellen«, die von der »Gazeta Wyborcza« unter dem Titel »Wir bitten um Verzeihung für 1939, wir danken für 1989« im vollen Wortlaut veröffentlicht wurde. Im Aufmacher auf der ersten Seite »Der unglückliche Pakt« hieß es: »Der deutsche und der sowjetische Überfall auf Polen waren ein Vorspiel zum vernichtenden Krieg und der kommunistischen Unterjochung Osteuropas.« Zwar wird in der Erklärung zugegeben, dass Ursache alles Unheils der mit dem Überfall auf Polen entfesselte Zweite Weltkrieg war. Doch der acht Tage vorher unterzeichnete Pakt zwischen zwei totalitären Regimes habe ihn erst ermöglicht – mit verheerenden Nachkriegsfolgen für die Völker Osteuropas und eines Teils Deutschlands, mit Leid, Verfolgung und Tod für all jene Menschen, die dem Kommunisten im Wege gestanden haben. Die Unterzeichner der Erklärung sind vor allem den Polen dankbar, dass sie nach Jahrzehnten des Kampfes um Freiheit und Demokratie als erste dem kommunistischen System Schläge erteilt hätten.

Diese Erklärung, für Polens »Geschichtspolitiker« wie Balsam auf der Seele, ist ein typisches Beispiel, wie man aus willkürlich aneinandergereihten Fakten, die zum Teil nicht unwahr sind, Geschichtsklitterung betreiben kann. Die Unterzeichner nennt man in Polen »Intellektuelle«. Geht man die Liste durch, wird sichtbar, dass neben einigen Universitätsprofessoren etwa ein Drittel von ihnen mit der »Bundesstiftung der Aufarbeitung der SED-Diktatur«, der Behörde für Stasi-Unterlagen und anderen »zeitgeschichtlichen« Institutionen und Stiftungen hauptberuflich verbunden ist. Eine weitere starke Gruppe bilden ehemalige Politiker, Beamte, Vertriebenenfunktionäre der »alten« Bundesrepublik.

Es verwundert nicht, dass sie von den Geschichtsaufarbeitern des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN) hoch gelobt werden. Aber auch die »Gazeta Wyborcza« rührt jetzt in Interviews z.B. mit dem britischen Historiker Norman Davies dieselbe Trommel. Von russischen Historikern oder hohen Regierungsbeamten sei eine ähnliche Verlautbarung nicht zu erwarten. Mehr noch, Moskau werde diese zwei Daten missdeuten, indem man den Münchener Vertrag 1938 sowie die Haltung Polens 1939, das die »vernünftigen Forderungen Berlins« strikt abgelehnt hatte, als die eigentliche Ursache des Krieges anführt und der »Große Vaterländische Krieg« als einziger Beziehungspunkt gilt. Aber auch die Zeitung »Trybuna« wärmt auf der Grundlage von Veröffentlichungen aus den 1970er Jahren die dubiose Geschichte von den »Verhandlungen« einer unbevollmächtigten britisch-französischen Militärdelegation im August 1939 in Moskau auf und wiederholt die These, es hätte eine Chance zur Vermeidung des Krieges gegeben.

In derselben Zeitung glossierte der bekannte Publizist Krzysztof Teodor Toeplitz jetzt, er fürchte sich schon vor dem 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs. Polens Rechte werde aufschreien, wenn Bundeskanzlerin Merkel, die am 1. September nach Gdansk zu den Gedenkfeierlichkeiten kommt, nicht in die Knie geht und Russlands Regierungschef Putin, der seine Anwesenheit ebenfalls ankündigte, sich ob des Hitler-Stalin-Paktes nicht an die Brust schlägt. Müsse denn Polen mit seiner Besessenheit nicht den Eindruck erwecken, dass es mit der ewigen Rückschau auf die Vergangenheit über andere Dinge kaum mit sich reden lässt? Wollen wir wirklich hauptsächlich Friedhofswächter sein statt aktiver Partner in Europa?

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