Ein Langläufer biegt in die Zielkurve

Bodo Ramelow über die Regeln des Parlamentarismus, Regenwassereintragungsgebühren – und seine Lust aufs Regieren

  • Lesedauer: 11 Min.
Ein Langläufer biegt in die Zielkurve

ND: Nur ein Prozent der Deutschen ist vom Wahlkampf begeistert, über die Hälfte noch unentschieden, wen sie wählt. Haben die Wähler womöglich den Spruch »Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten«, verinnerlicht? Oder ist der falsch?
Ramelow: Der hat schon was Wahres. Der Spruch ist in einer Zeit entstanden, als Wahlen obrigkeitsstaatlich so organisiert waren, dass das Wahlrecht nichts wert war. Im Ständewahlrecht war es völlig klar, dass die Mehrzahl der Bevölkerung nichts ändern konnte, weil die oberen Kammern alles allein geregelt haben. Heute haben wir gleiches Wahlrecht. Die Mehrheit könnte über bestimmte Grundlagen der parlamentarischen Demokratie entscheiden. Im Grundgesetz steht, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung mitwirken. Faktisch sind sie jedoch Träger und Steuermann dieser Willensbildung. Und die Parteien, die sich mit westdeutscher Prägung aufgemacht haben, unser Land zu regieren, sind inzwischen zu einem neoliberalen Brei verkommen. Die Bevölkerung ist frustriert und glaubt, dass es kaum unterschiedliche Kräfte und Konzepte gibt.

Aber die gibt es?
Seit die LINKE 2005 angefangen hat, stärker auszustrahlen, versuchen die anderen uns ständig links zu überholen. Ich warte auf den Tag, da Kanzlerin Merkel den gesetzlichen Mindestlohn auf ihre Fahnen schreibt. Ich bin überzeugt, dass wir die resignierende Haltung vieler Wähler – »die machen da oben ja doch, was sie wollen« – nur ändern können, wenn wir den Demokratiebegriff erweitern und uns nicht auf reine Parteilogik reduzieren. Deshalb halte ich den zusätzlichen Weg über direkte Volksbegehren und -initiativen, den wir in Thüringen seit zehn Jahren gehen, für den besseren. Wir müssen das außerparlamentarische System mit Beteiligungsformen ausstatten, damit Bürger Rechte haben und entscheiden können. Es muss eine Wechselwirkung geben – zwischen der Bevölkerung und dem, was im Parlament passiert.

Und die LINKE will das?
Unsere Aufgabe als linke Partei ist es, solche Themen zu erkennen, mit denen wir das Spektrum in Richtung Bevölkerung erweitern können. Fest steht doch: Würden die Thüringer darüber entscheiden können, wie in Zukunft bei Abwasser Beiträge erhoben werden, hätte die Mehrheit längst entschieden, dass es keine mehr gibt. Und könnten die Bürger über längeres gemeinsames Lernen entscheiden, gäbe es das inzwischen. Emanzipation und Partizipation sind Teil unseres politischen Angebots an die Wähler. Veränderungen in diesem Land wird es nur geben, wenn unsere Partei sie gemeinsam mit der Bevölkerung entwickelt – und wir die Bürgerbewegung als parlamentarischer Arm im Landtag vertreten. Das, was wir perspektivisch im Land umgestalten wollen, geht sowieso nur mit Bürgerbeteiligung.

Bevor das eintreten kann, muss die LINKE im Landtag so stark sein, dass beispielsweise Volksentscheide einen rechtlichen Status bekommen. Und wenn nicht?
Das erste Gesetz, das wir erlassen wollen, wenn wir regieren, ist das Gesetz zur direkten Demokratie. Das zweite wäre das Volksbegehren für bessere Familienpolitik. Und ein drittes ist das Thema Schulmilch und Schulobst. Das ist ein europäisches Projekt, das von der EU finanziert und in Thüringen einfach nicht umgesetzt wird.

Die Frage war, was passiert, wird die LINKE nicht stark genug.
Diese drei Gesetzentwürfe werden wir in jedem Fall einbringen – ob wir Regierung oder Opposition sind. Sollte die SPD mit der CDU eine Koalition der Verlierer bilden, würden wir es trotzdem einbringen – und die SPD müsste vor der Bevölkerung rechtfertigen, warum sie im Parlament Seit' an Seit' mit der CDU, der erklärten Gegnerin von Volksentscheiden, das Gegenteil von dem macht, was sie im Wahlkampf versprochen hat.

Die SPD vorzuführen, hat die LINKE auch im Bundestag schon mehrfach praktiziert. Mit Politikwechsel hat das nichts zu tun. Der ist – die Genossen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin können ein Lied davon singen – im Übrigen selbst beim Mitregieren mit ein, zwei Volksentscheiden nicht hinzubekommen. Ist Ihr Optimismus nur dem Wahlkampf geschuldet?
Ich bin seit 19 Jahren auch in größten Niederlagen optimistisch geblieben. Ich bin ein Langläufer – nicht jemand, der nur mal im Wahlkampf aufs Tempo drückt. Ich habe in meiner Fraktion immer dafür geworben, dass wir uns nur auf Dinge konzentrieren, die wir schaffen können. Nicht eingelöste Versprechen führen nur zu Enttäuschungen. Wenn ich sage, Thüringen kann das modernste Energieland, das modernste Bildungsland, das modernste Verwaltungsland werden, dann ist das ein Fünf- bis Zehnjahresprojekt. Und da geht es nicht um politisch-ideologische Grundansichten, sondern um praktische Alltagspolitik. Und die wollen wir anders und anfassbar machen. Die Regierungsbeteiligung in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sowie die Tolerierung in Sachsen-Anhalt haben sich für die PDS aus Sachzwängen ergeben. Ausgehend von der Berliner Erfahrung wenden wir uns in Thüringen mit einem eigenen Angebot an die Bevölkerung, in die Regierung zu kommen

Aber auch das wird die Thüringer LINKE nicht vor der üblichen innerparteilichen Kritik an angepasstem Mitregieren beschützen ...
Diese Diskussion müssen wir in der LINKEN sowieso führen. Und das will ich kraftvoll – mit Fakten und nicht mit theoretischen Exkursen, bei denen einige meinen, sie hätten die revolutionäre Weisheit mit Löffeln gefressen. Das geht mir mittlerweile massiv auf die Nerven. Da wird die eine Gruppierung gegen die andere in Stellung gebracht – aber sie wissen nicht mehr, was Abwasserzweckverbände oder Regenwassereintragungsgebühren sind.

Was Politiker wissen müssen?
Linke Politik beginnt damit, dass man das alles weiß. Dann müssen wir Angebote unterbreiten – und trotzdem gesamtdeutsch Druck von links auf die Entwicklung im Lande machen. Soziale Marktwirtschaft gibt es nicht mehr, nur noch Turbokapitalismus pur. Dadurch, dass die Systemauseinandersetzung weg ist, gibt es keine Begrenzung mehr. Ob beim Konkursrecht oder beim Niedriglohn – im Osten ist der größte Freilandversuch an Menschen gemacht worden. Selbst Hartz IV hat die schlimmsten Auswirkungen im Osten – auch wenn die Diskriminierung gesamtdeutsch ist. Deswegen appelliere ich auch immer an meine Partei, uns mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen und uns nicht in Hinterzimmer zurückzuziehen, in denen wir über die Änderung der Gesellschaft philosophieren.

Durch die praktische Form der Auseinandersetzung wurde Bodo Ramelow geadelt und zum Hauptgegner von CDU-Ministerpräsident Althaus erklärt. Gebauchbinselt?
Nein. Ich wüsste nicht, warum. Althaus – Skiunfall hin oder her – hat die Katastrophe letztes Jahr bei der Kabinettsumbildung eingeleitet. Seitdem verweigert unsere Landesregierung die Arbeit. Die Minister ziehen nur noch durchs Land, winken mit Lotto-Schecks und weihen irgendwelche Autobahnabschnitte hundertmeterweise ein – wie jedesmal in Wahlkämpfen. Schaut man, was hinterher geblieben ist, kann man nur zum Schluss kommen, dass diese Landesregierung abgewirtschaftet hat. Dazu kommt, dass Althaus ganz bewusst das Feld nach Rechts offen lässt – denken wir nur an den Versuch, einen Mann zum Kultusminister zu machen, der sich bei der »Jungen Freiheit« die Sporen verdient hat und Stauffenberg als Täter bezeichnet. Ganz abgesehen von seinem Slogan »Leute von hier für hier«, mit der der Ministerpräsident eine Thüringen-Tümelei losgetreten hat, die gefährlich für das Land ist.

Und Vorlage für die Junge Union, Sie per Bratwurst-Vergleich zum Un-Thüringer zu erklären?
Die Krabbelgruppe von Dieter Althaus hat ja viel mehr als einen daneben gegangenen Würstchen-Vergleich versucht. Sie haben mit dreisten Lügen über mich operiert, was inzwischen gerichtlich untersagt wurde. Aber das war kein Betriebsunfall der Jungen Union, der Ministerpräsident hat das zugelassen, auf dem CDU-Parteitag wurde dazu der Aufgalopp gemacht, als man Althaus schwarze Boxhandschuhe überzog und ihn öffentlich aufforderte, den Ramelow »wegzuhauen«. Inzwischen ist eine Zeitung »Tolles Thüringen« mit einer Millionenauflage auf dem Markt, in der zufällig alle CDU-Direktkandidaten gepusht werden. Einen sechsstelligen Betrag veranschlagen Experten für das Machwerk – angeblich weiß die CDU nicht, woher die Zeitung kommt und wer die Geldgeber sind. Offensichtlich haben wir es mit einer Berlusconisierung des Wahlkampfes zu tun. So mies das alles ist – es zeigt mir auch, wie ernst sie uns nehmen und welche Angst die CDU in Thüringen hat, von den Fleischtöpfen der Macht vertrieben zu werden.

Die könnte ja durchaus berechtigt sein. Aber LINKE und SPD gehen auch nicht fein miteinander um. Der SPD-Landeschef nennt Sie einen Solotänzer, Sie bezeichnen Christoph Matschie wiederum als Staatsschauspieler. Kein gutes Omen für Rot-Rot, oder?
Für unsere Partei gibt es eine eindeutige Festlegung. Wir wollen die CDU in die Opposition schicken und uns nicht mit einer halbgewalkten neuen Regierung irgendwie durchmogeln und das Gegenteil von dem machen, was wir versprechen. Regieren oder Opponieren – wir wechseln nicht das Themenfeld. Ich habe aber gerade in der Föderalismuskommission erlebt, wie die SPD umfällt und entgegen ihrer erklärten Meinung in den Ausschüssen dann machtpolitisch für das Gegenteil abstimmt. Und das ist auch die Differenz, die ich mit der SPD in Thüringen habe. Sie muss sich entscheiden: Will die SPD mit der CDU das Gegenteil von dem machen, was sie im Wahlkampf sagt und letztlich irgendwann mit Althaus in der Versenkung ähnlich der sächsischen SPD landen – oder will sie mit uns gemeinsam eine reformorientierte Landesregierung bilden. Wer öffentlich von morgens bis abends Althaus persönlich angreift und dann mit ihm koalieren will, ist ein Schauspieler.

Das Zusammengehen von CDU und SPD ist doch aber noch gar nicht ausgemacht. Strittig ist doch nur die Frage, ob LINKE oder SPD den Ministerpräsidenten stellen.
So lange die SPD nicht öfffentlich deutlich macht, dass sie keinerlei Koalition mit CDU und FDP eingeht, so lange glaube ich der SPD nicht, dass sie ernsthaft die Reformen mit uns durchsetzen will. Am Sonntagabend wird man sehen, ob es für Schwarz-Gelb reicht – dann muss Althaus einladen, weil immer der Stärkere das Vorschlagsrecht hat. Wenn aber die eindeutig kleinere Partei – wie die SPD in Thüringen – behauptet, sie stellten den Ministerpräsidenten und wir hätten ihn zu wählen, würde das die Regeln des Parlamentarismus mit Füßen treten. Ich wähle Christoph Matschie, wenn er eine Stimme mehr in das Gesamtpaket mitbringt. Aber eines lasse ich nicht zu: Unsere Partei ist nicht zweitklassig, wir sind nicht der Wahlhilfeverein einer anderen Partei. Auch das Spielchen, Grüne und SPD bilden gemeinsam eine Koalition in der Koalition und haben deshalb das Vorschlagsrecht, mache ich nicht mit. Dann müssen die beiden eben fusionieren – als Fusionsbeauftragter der LINKEN könnte ich sogar als Aufbauhelfer fungieren.

Mal ganz ernst – können der Solotänzer und der Staatsschauspieler gemeinsam eine Inszenierung hinbekommen, die erfolgreich ist?
Sie können, wenn Bedingungen und Inhalt stimmen. Das Thema längeres gemeinsames Lernen verbindet uns mit der SPD und den Grünen. Wie auch das Thema direkte Demokratie. Alle drei Parteien haben das gemeinsam getragen. Und beim Volksbegehren für bessere Familienpolitik und der Forderung nach 2000 Kita-Stellen haben Grüne, SPD und LINKE gemeinsam in der Landespressekonferenz als Beisitzer der Bürgerinitiativen gesessen. Wir haben eisern zusammengehalten und uns trotz sonstigem Gekeife nicht auseinanderdividieren lassen – so oft das auch versucht wurde.

Hört sich ja traumhaft an.
Mein Traum wäre, dass wir im 20. Jahr des einig Vaterlandes eine Landesregierung bilden, die Respekt vor der demokratischen Weiterentwicklung des Landes hätte und Emanzipation und Partizipation in den Mittelpunkt stellt. Dann wären wir tatsächlich auf einem neuen Weg, dann würde in Thüringen etwas völlig Neues passieren. Und ich wünschte mir, dass wir uns weder aus Berlin noch aus Westdeutschland noch von sonstwo außerhalb Thüringens reinquatschen lassen – sondern sagen, wir probieren weiter aus, was wir seit zehn Jahren gemeinsam machen. Dann wären wir eine gemeinsame Regierung und es wäre nicht mehr notwendig, mit Argusaugen darauf zu achten, wer wem die Butter vom Brot klaut.

Träume sind das eine, die Realitäten das andere. Um mit Horst Schlämmer zu fragen: Was mangelt – zwischen SPD und LINKER?
Auch ich habe Rücken und ich brauche Kreuz. Aber im Ernst: Die entscheidende Frage ist der latente westdeutsche Antikommunismus. Die Entscheidung für oder gegen ein Zusammengehen werden nicht hier in Thüringen getroffen, sondern in den Parteizentralen. Und solange im Willy-Brandt-Haus in Berlin nicht begriffen wird, dass es für die SPD eine Katastrophe wird, wenn sie sich in eine babylonische Gefangenschaft der CDU begibt, solange wird es kein Umsteuern geben. Aber auch hier stehen ja die Zeichen auf Wandel. Und das zeigt: Dafür, dass althergebrachte westdeutsch geprägte parteipolitische Strukturen überwunden werden, braucht es eine starke Linke. Ohne uns schaffen die das nicht. Und irgendwann muss die SPD sich auch entscheiden, ob eine Aversion gegen Oskar Lafontaine – der in den letzten 20 Jahren der erfolgreichste aller SPD-Chefs war und heute bei uns Politik macht – ihnen wichtiger ist als die Zukunft ihrer Partei.

Apropos Lafontaine. Der Blick am Sonntag geht nicht nur nach Thüringen, sondern auch an die Saar. Womit rechnen Sie?
Ich würde mir wünschen, dass nach den Landtagswahlen im Saarland und in Thüringen zwei Landesregierungen gebildet werden, in denen SPD und LINKE kooperieren. Das wäre ganz wichtig für den Bundesrat. Bislang ist es doch so, dass Harald Wolf von der LINKEN da ganz alleine sitzt. Und ich möchte, dass das nicht so bleibt. Denn solange die SPD gegen 28 Stimmen von Schwarz-Gelb agieren muss, so lange diktiert die FDP, wo es langgeht. Würden Thüringen und das Saarland von Rot-Rot regiert, könnten wir im Bundesrat zum ersten Mal gemeinsam mit der SPD den konservativen Durchmarsch zumindest aufhalten. Und dann sind ja in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern weitere rot-rote Konstellationen möglich ...

»ND im Club« ist mitten im Thüringer Wahlkampf nach Gotha auf Tournee gegangen. Nach mehreren Wahlkampfauftritten war dem Ministerpräsidentenkandidaten der LINKEN Bodo Ramelow am Abend nicht die Spur von Müdigkeit anzumerken. 90 Minuten lang stand er in einem öffentlich geführten Interview ND-Mitarbeiterin Gabriele Oertel Rede und Antwort.

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