Ganz bei sich sein – Glück, Gefahr?

Ibsens »Peer Gynt« am Maxim-Gorki-Theater Berlin, Regie: Jan Bosse

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Gesicht Peers drängt sich dicht vor die Videokamera, es kommt uns ganz nahe, bei dem Satz: »Das Gyntsche Ich herrscht nur global.« So nahe der Satz, so gegenwärtig der Stoff aus dem 19. Jahrhundert. Henrik Ibsens Stück: Porträt eines Taugenichts – und eines Egoisten, der alles will und zu allem taugt. Peer, ein Junge mit Händen in den Taschen, der um das dröge Wirkliche einen Bogen macht – und dann ein norwegischer Faust, der den Bogen raushat, ihn raushält, den Ellenbogen.

»Peer Gynt«, von Jan Bosse am Hamburger Talia-Theater inszeniert, jetzt als Berlin-Premiere am Maxim-Gorki-Theater zu erleben. Eine Aufführung, die tief ins Denken stürzt, was das sei: Selbst-Werdung, Selbst-Bewusstsein. Ein ganzes Leben durchreist dieser Peer, liebt, raubt, handelt mit Waffen, haust bei Trollen und unter Tieren, spielt Kaiser und Prophet, bis er zwiebelschälend vor der Kernlosigkeit seiner Existenz steht.

Bosse besetzte die Titelrolle mit dem grandiosen Jens Harzer. Er verwandelt stets alle, die er spielt, in Fernweltwesen, die sich wie unter vorsichtigem, scheuem Zögern in unsere Gegenwart hineinsprechen, hineinwinden. Junger Faust, alter Faust; junger Peer, alter Peer. Das wäre das Gewöhnliche, Gewohnte. Harzers Gynt aber bleibt ein ganzes langes Stück lang – jung. Das ist nicht wirklich ablaufendes Leben, das ist, vom tristen Bauernhof aus, ein Traumspiel mit der kalten, ökonomisierten Zukunft, in der wir längst angekommen sind.

Peers Reise: kein reales Stationendrama, Peer nicht kopfüber in die Welt!, nein, ein Kopfunter ist das eher, ein wühlendes Denkspiel hinter der eigenen Stirn. Ohne szenische Ausmalungen durch den Theaterapparat – alle Handlungsorte des Stückes (die Welt der Trolls, die Küste vor Marokko, die Wüste, eine Irrenanstalt in Kairo) bleiben ortlos, erscheinen aber als filmische Atmosphäre-Fetzen auf einer großen Pappkartonwand, geben einen Eindruck von Wildnis, Kampf der Naturen, metaphysischer Kraft des Traums. Dann wieder Live-Dialog-Videos aus dem Inneren dieses Kartonagenwürfels (Bühne: Stephané Laimé, Videos: Meika dresenkamp).

Im Verlauf des Abends brechen die Kartons zusammen; das Behauste, Feste: nur ein Pappkamerad unserer Illusionen. Es entstehen Tunnel, Treppen, und oben auf dem Pappdach liegt fast immer Solveig (Marina Galic), das Mädchen im Brautweiß, dessen Liebe von Peer Gynt über alle Zeiten hindurch kalt in den Wartestand gedrückt wird. Ein sinnloses Warten, ein sinnloses Opfer, überhaupt: Glauben, Lieben, Hoffen – vielleicht auch nur Selbst-Lügen. Denn: Nur nicht zu tief graben in den Tatsächlichkeiten, nur nicht zu sehr den Kern im Wesen aller Dinge anbohren. Auch hier gilt die Warnung vor Kernspaltung und Kernkraft. Wahrheit ist Katastrophenstoff.

Solche (Peer-Gynt-)Sehnsucht danach, sich selbst im Kern zu erkennen, sich zu erfahren in einem unangreifbar richtigen Lebens-Sinn – dies Wünschen wurzelt in unserer Leichtfertigkeit, von den extremsten Dingen zu sprechen, ohne das zu fürchten, was uns übersteigt. Unser Bewusstsein hat jede kreatürliche Furcht vor sich selber verloren, und daher wurden wir so anmaßend und besessen, mit den Händen greifen zu wollen, was doch schon der Gedanke nicht packt. Wir fassen fortwährend ins Unfassbare, als wäre es eine gefügige Manövriermasse unserer Gestaltungskräfte. Aber das Menschliche ist nicht in der Anbetung des faustisch forschenden Menschen zu retten. Vernunft? Ohne Rohheit nicht zu denken, Fortschritt? Nicht ohne Unheil zu haben. Jeder Veränderer macht sich fehlender Befugnis schuldig, und am Ende aller Aufschwünge – Peer macht's durch – steht die Selbsttäuschung, wir hätten Gottes Status erreicht und also das moralische Recht, uns wie Großbestimmer zu verhalten.

Das bestürzend Bannkräftige an Jens Harzer ist dessen Gleichzeitigkeit von Ver- und Entkörperung. Er ist bedrängte Kreatur, rücksichtsloser Jüngling an den Abgründen des Expressiven, ein verschmitzt wie verschwitzt inniger Philosoph seiner Abenteuer – aber da ist ebenso sein total fleischloses Geist- und Gemütswandern durch die Fremde des eigenen Lebens; Peer, ein Entnervter und Systemschaffer, und zugleich ein Nervenleser und Systembeschauer. Ein Mensch im doppelten Sinne – außer sich. Außer sich vor Drang, und außerhalb seiner selbst stehend; sehend, dass alles Erringen doch nur ein geschäftiges Glücken ohne Glück ist. Harzer malt mit krümmungslüsternen, fühlerfiebrigen Händen Zeichen in die Luft, als wären es Pläne und Programme; er ist ein schmutziger, strähniger Junge, und der Schmuddel hat Grazie. Wenn er später unterm Schlips das weiße Hemd des imperialen Strebers trägt, wirkt er wie ein falsch Behäuteter, und er wird zu seinem ausgeleierten, befleckten T-Shirt zurückkehren, zu den fahrigen Griffen ins schweißige Gesicht, durchs angefettete Haar; ein gejagter Knabe in nicht bezwingbarer Not: Denn »Peer Gynt« ist das Drama des sich ewig hinausträumenden Menschen, der leider immer in die falsche Welt hineingeboren wird.

Eine verstörende Balance geht von der Aufführung aus. Wo man Peer zunächst als taugenichtsfrechen Spinner abtun möchte, der abseits sozialer Pflichten fantasievoll das Nichts tut (ja, ein Nichts-Tuer in der Art des glücklichen Arbeitslosen!), da leuchtet einem doch das freie große und poetische Abirren auf, dies so sympathische Asoziale wider die Zeigefinger der Verantwortungsbewussten. Und wo dieser Peer zum global gestimmten Raffer wird, da verstehe ich ihn ebenfalls und denke an Camus, der sagte, Geld sorge nur für Unabhängigkeit, für wahre Freiheit brauche man weit mehr: nämlich sehr viel Geld. Ibsen als sehr heutiges Duell der Alternativen jenseits müder Mitte. Immer wieder schlägt sich Peer mit beiden Händen vor den Kopf; das Denken, das den Kopf zu sprengen droht (ich will was Großes sein und tun), in quälendem Ausgleich mit dem, was endlich an Erkenntnis in den Schädel hinein soll (wo ich nichts bin, bin ich elend – aber größer).

Wunderbar leicht, wärmend, wehmutsvoll die Szenen mit seiner Mutter, die Karin Neuhäuser liebevoll streng, lächelnd besorgt und ruppig sohnesstolz gibt. Wie sie raunzt und doch liebesglüht, wie sie das Strafende hervorkehrt, um herztiefes Verständnis zu kaschieren, das gehört zu den großen Momenten. Im Sterben zieht sich die Mutter Peers Hand über die brechenden Augen – Neuhäuser und Harzer schufen da einen Augenblick Unvergesslichkeit. In diesen Szenen mit Peer gewinnt der dreieinhalbstündige Abend die größte menschliche Eindringlichkeit.

Jens Harzers Spiel rumort lange nach: Ganz bei sich selbst sein zu wollen: Glück oder Gefahr?

Nächste Vorstellung: 27. 10.

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