Tatort Knie

Experten halten die Hälfte aller Operationen am Knie für überflüssig

  • Walter Willems
  • Lesedauer: 3 Min.
Arthroskopien am Knie, invasive Herzkatheter, Gebärmutterentnahmen: In kaum einem anderen Land raten Ärzte so rasch zu einer Operation wie in Deutschland. Dabei bringen viele gängige Eingriffe den Patienten nachweislich keinen Nutzen.
Nach einer Knieoperation muss trainiert werden. ZB/Kalaene
Nach einer Knieoperation muss trainiert werden. ZB/Kalaene

Geradezu euphorisch priesen Mediziner jahrelang die Vertebroplastie zur Stabilisierung eingebrochener Wirbelkörper: Bei dem minimal-invasiven Eingriff injizieren Ärzte Knochenzement in den erodierten Hohlraum des Wirbels, der so von innen gefestigt werden soll. »Das Verfahren ist eigentlich bestechend«, sagt Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. »Deshalb hat der Einsatz der Vertebroplastie in den letzten Jahren exponentiell zugenommen.«

Tatsächlich schien der Eingriff zuverlässig zu helfen. Die meisten vorher schmerzgebeutelten Patienten fühlten sich danach wesentlich besser. Nun trüben zwei Studien aus den USA und Australien das schöne Bild. In beiden Untersuchungen wurde eine Hälfte der Patienten der Vertebroplastie unterzogen, während die übrigen unwissentlich eine Scheinoperation erhielten. Zur Überraschung der Fachwelt war der Erfolg in beiden Gruppen ähnlich. »Wir behaupten nicht, dass die Vertebroplastie nicht funktioniert, denn irgendwie tut sie das«, sagt David Kallmes von der Mayo Clinic, der die US-Studie leitete. »Aber in beiden Patientengruppen besserten sich Schmerz und Funktionsfähigkeit gleichermaßen, egal ob ihnen Zement injiziert wurde oder nicht.« Dass die im renommierten »New England Journal of Medicine« veröffentlichten Untersuchungen die ärztliche Praxis verändern werden, darf bezweifelt werden. Wie lange eindeutige Studienresultate von der Fachwelt ignoriert werden, zeigt das Beispiel arthroskopische Chirurgie, einer der häufigsten Eingriffe am Knie. Schon vor sieben Jahren zeigte eine Untersuchung, dass die sogenannte Gelenktoilette bei einer Arthrose des Knies nicht hilft und stattdessen Risiken birgt wie etwa Infektionen. Als im vorigen Herbst eine zweite Studie das Resultat bestätigte, riet der US-Verband der Orthopädischen Chirurgen (AAOS) von dem Eingriff ab.

Dessen ungeachtet bieten hierzulande nach wie vor insbesondere niedergelassene Chirurgen das Verfahren an, für das beim Kassenpatienten 500 Euro berechnet werden. »Ich habe nicht den Eindruck, dass die Studien einen Wandel bewirkt haben«, sagt der Heidelberger Kniespezialist Hans Pässler. »Jede Woche behandle ich Arthrosepatienten, die unnötig operiert wurden und denen es danach schlechter ging als vorher.«

Eine Leitlinie, wann ein arthroskopischer Eingriff sinnvoll ist und wann nicht, gibt es in Deutschland nicht. Keiner weiß, wie häufig solche Operationen zwischen Flensburg und Oberstdorf vorgenommen werden und wie oft es dabei zu Komplikationen kommt. Hermann Mayr von der Deutschsprachigen Arbeitsgemeinschaft für Arthroskopie (AGA) schätzt, dass sich jedes Jahr bundesweit 550 000 Menschen dieser Operation unterziehen. Rund 15 Prozent der Eingriffe entfallen laut Mayr auf Kniearthrosen, trotz des fehlenden Nutzens. Pässler hält auch einen großen Teil der 300 000 arthroskopischen Meniskusoperationen für unnötig. Etwa die Hälfte aller Arthroskopien sei in Deutschland überflüssig, schätzt er.

Aber warum setzen Ärzte ihre Patienten wider besseres Wissen einem Risiko aus? »Ökonomische Gründe spielen sicher eine gewisse Rolle«, meint Pässler. Bauer glaubt ebenfalls, dass finanzielle Interessen dazu verleiten können, solche Operationen vorzunehmen. Auch bei anderen Problemen greifen deutsche Mediziner schnell zum Skalpell. Bei der Zahl der implantierten Herzschrittmacher nimmt Deutschland in Europa eine Spitzenposition ein, ebenso bei entnommenen Gebärmuttern oder invasiven Herzkatheteruntersuchungen. »Es wird zu viel operiert«, kritisiert Pässler und nennt als weiteres Beispiel die Entfernung der Plica. Finden Ärzte beim Blick ins Kniegelenk nichts, entfernen sie gern diese Schleimhautfalte. So wird aus dem schlecht bezahlten rein diagnostischen Eingriff eine lohnendere operative Therapie. Der Missstand deutet auf ein grundlegendes Problem hin. Neue chirurgische Verfahren müssen ihren Nutzen nicht unter Beweis stellen. »Es gibt keinen Zwang, solche Studien durchzuführen«, sagt Edmund Neugebauer von der Universität Witten-Herdecke. Inzwischen zeichne sich aber zunehmend der Wille einer solchen Prüfung ab, auch wenn dies meist mit großem Aufwand und Kosten verbunden sei. Die Studienkultur setzte sich ganz langsam durch.

Aber wie können sich Patienten vor unnötigen Eingriffen schützen, wenn ein Arzt zur Operation rät oder gar drängt? Auf diese Frage geben alle Experten den gleichen Tipp: Bei Zweifeln eine unabhängige zweite Meinung einholen.

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