Das wahre Leben

Dem DEFA-Regisseur Roland Gräf zum 75. Geburtstag

  • Dieter Wolf
  • Lesedauer: 5 Min.

Das war wohl dem Knaben eines Holzarbeiters an der Wiege im thüringischen Meuselbach, zumal an einem 13., nicht gesungen, dass aus ihm einmal einer der kreativsten deutschen Kameramänner und vielseitigsten DEFA-Regisseure werden sollte. Und tatsächlich, nach der Grundschule geht er zunächst in die Lehre als Industriekaufmann. Erst das Studium an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät der Uni Jena stellt Weichen fürs andere Gleis. 1954 erobert Gräf einen der heiß umkämpften Studienplätze in der Fachrichtung Kamera der neu gegründeten (1.!) Deutschen Hochschule für Filmkunst in Babelsberg.

Zunächst orientiert er sich ganz auf das wahre Leben und den Dokumentarfilm. Aber schon 1961 gelingt der Sprung ins DEFA-Spielfilmstudio. Doch die Dreharbeiten zum Debüt-Film »Wind von vorn« mit seinem Regiekommilitonen Helmut Nitzschke werden abgebrochen. Allein die unkonventionelle quasi-dokumentare Stilistik, allerdings auch mit realitätsnahem Blick auf den harten Arbeitsalltag von Kraftfahrern einer Großbaustelle, verunsichert die Studioleitung. Während der Regisseur auf eine neue Chance lange hoffen musste, wartete auf den Kameramann jede Menge Arbeit – in anspruchsvollen DEFA-Dienstleistungen für das Adlershofer Spielfilmprogramm.

Der Mauerbau nährt kurzzeitig die Illusion größerer künstlerischer Souveränität, da scheint auch mehr Raum für die Jungen, die Hausherren von morgen. Studienfreund Jürgen Böttcher, als Dokumentarfilmregisseur bereits bewährt, bekommt ein erstes (leider auch letztes) Spielfilmangebot, »Jahrgang 45«, über die Ehekrise eines sehr jungen Paares vom Prenzlauer Berg. Obwohl 1966, nach dem 11. Plenum, gedreht, gerät die unpolitische Charakter- und Milieustudie auf die Verbotsliste einer halben Jahresproduktion. Nun trifft es, und gleich zum dritten Mal, auch die Dramaturgin Christel Gräf, die Lebensgefährtin, professionelle Begleiterin fast aller seiner Filme.

1970 wünscht Klaus Poche, dass sein Filmscript »Mein lieber Robinson« von Gräf fotografiert und auch inszeniert wird. Mit diesem Porträt eines jungen Sanitäters im Notarztwagen, dessen studentische Freundin sogleich schwanger wird, kann Gräf endlich den eben von Lothar Warneke ausgerufenen »dokumentaren Spielfilm«, zuvor schon als dessen Kameramann, nun auch als Regisseur wirkungsvoll ins Bild setzen. Das soziale Umfeld, das liebenswerte Ostberlin der frühen 70er, wird zum Mitspieler vor bewegter Kamera, die auf kunstvoll komponierte Bilder verzichtet. Gräfs ebenso unpolemischer wie ungeschönter Blick auf die Realität empfiehlt ihn 1974 für eine nächste Regie, nach einem Szenarium von Martin Stephan. Durch ihn und mit Erwin Geschonneck in der Titelrolle wird »Bankett für Achilles« eines der besten Arbeiterporträts der DEFA-Geschichte jenseits aller Heldenklischees und ein nüchtern genaues Zeit- und Milieubild der Industrielandschaft von Bitterfeld, mitsamt ihrer Umweltgefährdung.

Mit seiner nächsten Arbeit »Die Flucht« begibt sich Gräf ins heikle Terrain von Republikflucht und kommerzieller Fluchthilfe. Dass sein negativer Held, ein ehrgeiziger Oberarzt mit Forscherambition, aus Ostfrust und nicht aus Westlust ins andere Deutschland will, schon gar nicht als Wirtschaftswanderer, führt trotz des dramatisch-letalen Ausgangs schnell weg vom Krimi zum facettenreichen Charakterbild, eindrucksvoll gespielt von Armin-Mueller Stahl. Mit »P.S.« (für Peter Seidel, einen Waisenhausjungen) begibt sich Gräf (Buch: Helga Schütz) noch einmal in den weniger dramatischen DDR-Alltag.

Nach der Entdeckung unbekannter junger Darsteller fürs Kino wie Andrzej Pieczynski oder Franziska Troegner schreibt und dreht er 1980/81 einen Schauspielerfilm für Hermann Beyer und Kurt Böwe nach Günter de Bruyns Erzählung »Märkische Forschungen«. Ein Landlehrer und penibler Hobby-Forscher gerät darin mit einem karrierebedachten und prominenten Literatur-Professor in erbitterten Streit über den wahren Charakter eines vergessenen märkischen Dichters: Renegat oder Revolutionär? Das ist hier die Frage.

Weniger kinowirksam wird Gräfs zweite Arbeit mit Martin Stephan »Fariaho«, das anrührende Porträt eines alternden Puppenspielers mit KZ-Erfahrung, der Ende der 50er Jahre mit seinem alten Repertoire das neue Publikum enttäuscht und vergeblich nach jungen Kunstgefährten sucht. 1985 nutzt Gräf als Autor-Regisseur Friedrich Wolfs Erzählung »Der Russenpelz« für eine starke Familientragödie: »Das Haus am Fluß« bereichert dank großartiger schauspielerischen Leistungen von Corinna Harfouch, Katrin Sass, Johanna Schall und Jutta Wachowiak die Tradition des antifaschistischen DEFA-Films mit einem noch nicht gesehenen Kriegs- und Zeitbild.

»Fallada – Letztes Kapitel« wird Gräfs letzter historischer Porträtfilm mit einem unübertrefflichen Jörg Gudzuhn in der Rolle des suchtkranken Dichters, den die innere Emigration im faschistischen Deutschland schon so beschädigt, dass die Befreiung für ihn nicht zum Neubeginn werden kann.

Ende der 80er Jahre engagiert sich Roland Gräf als Vorsitzender des Künstlerischen Rates intensiv für eine kulturpolitische Öffnung und Verjüngung der Studioproduktion. Als gewählter Intendant einer erhofften Spiel- und Fernsehfilm-Produktions GmbH entwirft er 1990 ein Überlebenskonzept für das Studio. Vergeblich. Die Treuhand betreibt die rasche Privatisierung und Vermarktung der Immobilie. Die künstlerischen Kräfte sind in die freiberufliche Arbeitslosigkeit entlassen.

Gräf kann in Koproduktion mit dem WDR noch zwei Kinofilme inszenieren. Nach der Erzählung »Der Tangospieler« von Christoph Hein entsteht ein eher leiser, kritischer Rückblick auf DDR-Demokratie-Defizite Ende der 60er Jahre vor dem Hintergrund der militärischen Absage an eine Sozialismus-Reform nach Prager Muster. Der Film, preisgekrönt auf der Berlinale im Februar '91, verhilft Gräf zu einem Bundesfilmpreis. Doch das eigentlich für eine nächste Produktion des Filmemachers gedachte Preisgeld von 700 000 DM wird ihm für keines seiner anspruchsvollen Projekte gewährt, weil die Restfinanzierung mit einem Eigenanteil des neuen Studioeigners, repräsentiert durch den Künstlerischen Leiter Volker Schlöndorff, verweigert wird. Und so endet mit dem Krimi »Die Spur des Bernsteinzimmers« die Kino-Filmografie eines Mannes, der sich mit sehr eigenen Beiträgen in die DEFA-Geschichte eingeschrieben hat.

Für einige Zeit darf er noch einmal an die Babelsberger Filmhochschule zurückkehren, nun als Lehrer im Studiengang Schauspiel. Doch zuvor muss der vielfach Preisgekrönte dafür eine Anhörung bestehen und eine Probeinszenierung (!) vorstellen. Inzwischen ist sein professionelles Interesse nach eigener Aussage nur noch personell bezogen, etwa auf die Arbeit von Andreas Dresen, oder auf Erbauung orientiert. »Aber Erbauung kann man sich auch angesichts einer Abendlandschaft im Fläming verschaffen.« Wie wahr! Und dazu wünschen wir dem leisen Filmarbeiter Roland Gräf das Wichtigste: Gesundheit.

Der Autor war als DEFA-Dramaturg 1964-1990 Leiter der Gruppe Babelsberg. Sein Buch »Unsere nicht gedrehten Filme« ist erhältlich für 3 Euro nur noch im ND-Bücher-Shop.

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