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Siehst du den Sternenglitzerstoff?

Über die Verheißung und Zerbrechlichkeit des Lebens: »Öffnet sich der Himmel« von Seán Hewitt

  • Ingo Petz
  • Lesedauer: 4 Min.
Irgendwann öffnet sich der Himmel und man kann nur noch staunen, was passiert.
Irgendwann öffnet sich der Himmel und man kann nur noch staunen, was passiert.

Es ist ein Kaff im Norden Englands, in dem der 16-jährige James aufwächst, eine raue und abgelegene Gegend, umgeben von einer betörenden Natur: mit Wiesen, die bis zum Horizont reichen, dichten Wäldern, geheimnisvollen Höhlen und hohen, knochigen Hecken. Die üppige Natur ist die eigentliche Protagonistin im Roman »Öffnet sich der Himmel« des 35-jährigen Briten Seán Hewitt. Sie ist nicht nur Staffage und Bühnenbild, sie ist Spiegelbild und Projektionsfläche der wilden, aufwühlenden Gefühlswelten, durch die dieser Junge an der Schwelle zum Erwachsenwerden rauscht.

Das satte Abendlicht des Frühlings, das die Welt in bernsteinfarbener Verheißung erstrahlen lässt. Düstere, abgelegene Wege an einer Straßenunterführung, die die Verzweiflung über das eigene Tun und Verlangen versinnbildlichen. Dazu die Orientierungslosigkeit, durch die dieser James schliddert, der sich in Luke verliebt hat, einen etwas älteren, launisch und freigeistig daherkommenden Jungen, der nach der schmerzhaften Trennung von seinem Vater auf dem Hof von Onkel und Tante lebt und der bei allem Draufgängertum von einer tiefen Zerrissenheit gezeichnet ist. Die beiden kommen sich zwar näher, sie werden Freunde und Weggefährten, aber die Liebe, nach der James sich sehnt, wird es nicht. Sie bleibt unerwidert und damit unerfüllt.

Hewitt, der bereits für seine Gedichtbände mehrfach ausgezeichnet wurde, tritt in seinem Debütroman offensichtlich in die großen Fußstapfen naturnaher Seelenerkunder der klassischen Romantik, wird dabei aber nicht zum altmodischen Kopierdichter aus der ranzigen Mottenkiste. Ihm gelingt es – auch wenn seine beladenen, sinnsuchenden Sprachbilder oft am poetischen Kitsch kratzen –, einen ganz eigenen, modernen Sound heraufzubeschwören, der in seiner lässigen Melancholie und schreienden Sehnsucht an Songs von Bands wie Communards, The Stone Roses oder Suede erinnert.

Es ist ein Sound, den man erst mal in sich hineinkriechen lassen muss. Aber dann treibt er diese queere Coming-of-Age-Geschichte tatsächlich auf das Niveau eines mitreißenden Pageturner-Soundtracks, der weniger von einem spektakulären Handlungslabyrinth und ausufernden Gewaltexzessen wie bei einem Autor wie Douglas Stuart lebt, sondern von einem poetischen Ausloten dessen, was Schopenhauer als die Welt als Wille und Vorstellung beschrieben hat. Das tut Hewitt mit einer derart begnadeten, sinnlichen und virtuosen Sprachkraft und klaren literarischen Vision, dass den Leser trotz der eher handlungsarmen Erzählung das Gefühl beschleicht, durch eine gewaltige Abenteuerlandschaft zu stapfen, die ihn im Staunen über die Wunder und Abgründe des Liebens und Heranwachsens gefangen nimmt.

James wächst in einer armen, wie man sagt, sozial schwachen Familie auf, bessert sich sein Taschengeld mit Milchlieferungen auf; sein jüngerer Bruder leidet an einer unklaren Krankheit, die immer wieder zu lebensbedrohlichen Anfällen führt. Es ist eine fragile Umgebung, in der der Teenager mit diesem neu erwachten glühenden Verlangen lebt, das ihn in einer erzkonservativen Umgebung zum Außenseiter macht.

Diese omnipräsente Zerbrechlichkeit und Unsicherheit in seinem realen Leben ist zweifelsohne ein Grund, warum sich James in fast besessener Art und Weise in Traum- und Vorstellungswelten flüchtet und sich darin zu verlieren droht. »Es gab Tage«, heißt es im Buch, »da fürchtete ich, mein Verlangen nach mehr Liebe, mehr Berührungen könnte das vor mir liegende Leben zerstören. Ich konnte mich nicht an einem Ort des reinen Bedürfnisses befinden und zugleich existieren. Das Leben floss wie Wasser an mir vorbei, strömte um mich herum.«

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Die Rahmenhandlung der Geschichte – erzählt in vier großen Kapiteln, die sich an den Jahreszeiten entlanghangeln – entsteht genau aus diesem Scheitern an der Suche nach dem ewigen Begehren. Der erwachsene James kehrt in sein Heimatdorf zurück, nachdem seine Liebesbeziehung zerbrochen ist. Am Ort der Jugenderinnerungen beginnt er, der Ursache für sein verzehrendes Verlangen und der Unmöglichkeit zur reifen Liebe auf den Grund zu gehen. Er träumt sich zurück in die Zeit, als ihn diese heftige Liebe und die Scham über seine Sexualität übermannten.

In seinen Selbstreflexionsketten wirkt dieser James zwar klarsichtig, gleichzeitig aber hält den Erzähler auch genau dies in Zweifeln, weil eben alles James’ Kopf und Herz entspringt. Einen auktorialen Erzähler, der über alles Bescheid weiß und einem Gewissheit über das Erzählte verschafft, gibt es nicht. Die daraus resultierende Ungewissheit gilt auch für Luke. Ist er ein realer Charakter oder schlicht Produkt und Projektionsfläche von und für James’ lodernde Sehnsüchte und Schwelgereien? Auch die eindringlichen Naturbeschreibungen, die das Auf und Ab der durchlebten Gefühlswelten widerspiegeln und verstärken, entspringen James’ Vorstellungswelt. Sie verquicken die eigentlich recht profane Geschichte mit den Lebenslinien, die in die Ewigkeit der großen Schöpfungsgeschichte ausgreifen. Es ist der sternenglitzernde Stoff, aus dem die Verheißung und Zerbrechlichkeit des Lebens besteht, den Hewitt hier so gekonnt, erhaben und prall verwebt. In unserer Zeit der Kriege, Krisen und einer sich auftürmenden Düsternis wirkt dieser feine, kunstfertige Roman wie ein verdammt gutes Aufhellmittel.

Seán Hewitt: Öffnet sich der Himmel. A. d. Engl. v. Stephan Kleiner. Suhrkamp, 283 S., geb., 25 €.

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